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Kultur: Etikettenschwindel

Neue Philharmonie Hamburg im Nikolaisaal

Auch das Publikum schien leicht ratlos. „Vivaldi, ja, der ist wunderbar, dazu kann ich auf der Couch immer schön einschlafen“, raunte ein Besucher. Die Internetseite des Nikolaisaals war auffällig einsilbig geblieben, mit dem Hinweis, ein Fremdveranstalter habe sich eingemietet, war über das Konzert des sogenannten „Kammerorchesters der Neuen Philharmonie Hamburg“ wenig mehr zu vernehmen als der Termin und das Motto. Folgerichtig blieben denn am Samstagabend viele Plätze im Nikolaisaal leer, als das „Orchester“ mit „Vivaldi und den Großen der Klassik“ aufspielte.

Insgesamt machte der Abend allerdings eher den Eindruck, als hätte jemand hinterm schwarzlichtbestrahlten Vorhang eine versteckte Kamera installiert, die die Publikumsreaktionen hätte festhalten sollen, so grotesk bis an den Rand der Unseriösität war der Auftritt. Es erstaunte, dass es sich in Wahrheit um ein Streichquintett handelte, das nur erweitert war um den Violinvirtuosen und einen namenlosen Pianisten, der Cembaloklänge nur sphärisch imitieren konnte, da er an einem geschickt mit Holz umkleideten Instrument saß, das dann doch nur ein elektronisches Klavier war. Ebenso überraschte, dass sich die anderen „Größen der Klassik“ in einer höchstens beliebigen Musikauswahl erschöpften, in der zwischen dem klassikradioaffinen „Air“ (aus Bachs dritter Orchestersuite) und Joseph Haydns Serenadennotturno eigentlich noch Säbeltanz, Hummelflug und ähnliche Ohrwürmer zum angeblichen Best-of-Abend gefehlt hätten, nur waren dafür zu wenige Musiker da.

Der Solist in Vivaldis immerhin komplett absolvierten „Vier Jahreszeiten“ war nicht Konzertmeister Tigran Mikaelyan, aber das fiel nur auf, wenn man Programmheftporträt und Realgeiger miteinander verglich. Den richtigen Namen, Edouard Tachalow, ließ man gleich ganz unter den Tisch fallen. Das Programmheft sei eben schon drei Monate alt, hieß es auf Nachfrage. Tachalow machte seine Sache übrigens gar nicht schlecht – ziemlich virtuos, wenn auch nach ganz alter Schule und gänzlich unbeschadet jeder musikhistorischen Kenntnis. Folgerichtig prasselte nach jedem der zwölf Sätze Applaus. Spätestens wenn bei leisen Stellen das Ensemble auseinanderfiel, bewies man aber, dass schnelle Bogenstriche allein noch keinen guten Musiker machen. Gemessen an den Produktionsbedingungen war die musikalische Qualität erstaunlich. Gemessen an dem, was sonst im Nikolaisaal erklingt, durchaus zu vernachlässigen.

Aber es passte ins Bild des hellen Scheins, der das Sein verdeckt. Allein der Name „Neue Philharmonie Hamburg" will Assoziationen mit spektakulärem Neubau und dazugehörigem Profiorchester in der Hansestadt wecken, hat aber weder mit dem einen noch mit dem anderen etwas gemein; „renommierte Gastdirigenten“, die mit der Muckentruppe schon auftraten, hören laut Orchesterbiografie auf so weltberühmte Namen wie Seidel, Steurenthaler oder Bank; die Interpretationsmängel werden als „künstlerische Freiheit“ umgedeutet, und auf öffentliche Fördermittel hat man angeblich „bewusst verzichtet“. Das Ärgerliche an dieser Art von Ensembles ist nicht, dass sie aus ihren Nöten Tugenden machen, sondern dass hier jemand von einem ziemlich dreisten Veranstalter lieblos und unprofessionell von Kleinstadtkulturhaus zu Großstadtbühne gejagt wird, wohl im festen Glauben an ein berieselungsseliges Publikum, das von dem Etikettenschwindel schon nichts bemerken wird. Christian Schmidt

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