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Kultur: Fahrstuhl zum Bankrott

Sascha Reh liest aus „Gibraltar“

„Was ist mit dem Geld?“ Knapper als mit dieser Frage könnte man jene Krise, die seit über einem halben Jahrzehnt das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und Zukunft unserer Gesellschaft zersetzt, wohl kaum charakterisieren. In Sascha Rehs zweitem Roman „Gibraltar“ (Schöffling & Co, 22,95 Euro), den er am heutigen Dienstag um 19 Uhr in der Stadt- und Landesbibliothek, Am Kanal 47, vorstellt, wird sie von Thomas Alberts gestellt, dem verlorenen Sohn des Bankenpatriarchen Johann Alberts. Letzteren hat die plötzliche Pleite seiner Bank gleich aufs Sterbebett befördert. Gerichtet ist die Frage von Thomas Alberts aber an seinen Nachfolger Milbrandt, nachdem Thomas ihn in seinem spanischen Versteck aufgespürt hat.

Während der leibliche Sohn für die Bankgeschäfte des Vaters seit Jahren nur schneidende Verachtung übrig hat, ist Bernhard, Johann Alberts Ziehsohn, bis zu seiner Flucht als Spekulant ein Überzeugungstäter gewesen. Einer dieser bösen Banker, von denen es gern heißt, sie stürzten ganze Volkswirtschaften in den Abgrund. Indem sie deren Staatsanleihen „leer“ verkaufen, also auf fallende Kurse setzen. Bernhard Milbrandt selbst beschreibt seine Tätigkeit so: „Ich kaufe billig Handgranaten ein und ziehe die Sicherungssplinte. Dann verkaufe ich sie möglichst teuer weiter. Wer die Granaten noch hat, wenn sie explodieren, hat verloren.“

Bei den verkauften Handgranaten handelt es sich um geliehene griechische Staatsanleihen. Bernhard Milbrandt wettet für das fiktive Bankhaus Alberts und Co. im großen Stil auf eine Pleite Griechenlands. Am Ende explodieren die Granaten wirklich, nur anders als gedacht. Als im Frühjahr 2010 allen EU-Verträgen zum Trotz Griechenland erstmals „gerettet“ wird und sich seine Anleihen vorübergehend erholen, muss die traditionsreiche Berliner Privatbank die Anleihen teuer zurückkaufen – und geht bankrott.

Ehe Bernhard Milbrandt untertaucht, zweigt er immerhin noch etliche Millionen für sich selbst ab. Und versteckt sich, ausgerechnet, in einer der vielen seit der Finanzkrise halbfertig gebliebenen Appartementanlagen an der spanischen Küste, um von dort aus das unterschlagene Vermögen über eine Offshore-Bank auf Gibraltar in Sicherheit zu bringen. Der Titel dieses Romans, „Gibraltar“, für den Sascha Reh in diesem Jahr mit dem Literaturkunstpreis von Lotto Brandenburg ausgezeichnet wurde, steht damit für die Utopie, die allumfassende „Verschuldungskette“ durchbrechen zu können, die sämtliche Figuren des spannend zu lesenden Romans miteinander verbindet – und die selbstverständlich Utopie bleiben wird.

Man sieht: So aktuell wie bei Sascha Reh, der 1974 geboren wurde, ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur selten. „Gibraltar“ setzt den Trend zum Wirtschaftsroman fort, nach „Johann Holtrop“ von Rainald Goetz, „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ von Nora Bossong oder den Romanen eines Ernst-Wilhelm Händlers. Sascha Rehs Roman zeigt auf überzeugende Weise modellhaft, wie sehr letztlich (wir) alle mit dem Finanzsystem verstrickt sind und, bei aller Kritik, von ihm profitieren. Oliver Pfohlmann

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