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Irans Präsident Ebrahim Raisi bei einem Fernsehinterview am Donnerstag in Teheran.

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Proteste im Iran: Wie die letzten Tage der DDR

Das Regime in Teheran ist stark verunsichert – der Präsident sucht auf einmal den Dialog mit den Bürgern.

Ebrahim Raisi brauchte mehr als eine halbe Stunde, bevor er zur Sache kam. Bei seinem ersten ausführlichen Fernsehauftritt seit dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in den Händen der Religionspolizei vor zwei Wochen lobte sich der iranische Präsident am Mittwochabend zunächst selbst für seine Wirtschafts- und Außenpolitik. Die Protestwelle seit Aminis Tod erwähnte er zunächst nicht. Der Präsident wollte damit wohl Gelassenheit demonstrieren, doch der Versuch misslang. Raisis Auftritt erinnerte an das Verhalten von DDR-Politikern kurz vor dem Fall der Mauer: Er zeigte unfreiwillig, wie verunsichert das Regime ist. Die Schuld an den Protesten sucht seine Regierung im Ausland – auch in Deutschland.

Amini war von der Religionspolizei festgenommen worden, weil sie ihr Kopftuch nicht streng genug gebunden hatte. Ihre Familie wirft den Sittenwächtern vor, die junge Frau totgeprügelt zu haben, was die Behörden bestreiten. Millionen Iranerinnen und Iraner gehen seit Aminis Tod am 16. September auf die Straße. Bei Demonstrationen im ganzen Land fordern sie nicht nur die Abschaffung des Kopftuch-Zwangs, sondern den Sturz der Islamischen Republik.

80
Menschen sind bei den Unruhen bisher gestorben

Rund 80 Menschen wurden bei den Unruhen, den schwersten Protesten seit drei Jahren, bisher getötet, wie Menschenrechtler schätzen. Trotz Internetsperren und Großaufgeboten der Polizei gehen die Demonstrationen weiter. Während Raisi im Fernsehen sprach, riefen Bewohner der Hauptstadt Teheran aus Fenstern die Parole „Tod dem Diktator“ – gemeint war Raisis Mentor, Revolutionsführer Ajatollah Ali Khamenei.

Khamenei, der mächtigste Mann im Land, hat sich bisher nicht zu den Protesten geäußert. Der 83-Jährige ist krank und seit einer Woche nicht mehr öffentlich aufgetreten. Außerdem ist Khamenei bekannt dafür, unangenehme Aufgaben seinen Regierungspolitikern zu überlassen, die als Sündenböcke herhalten müssen, wenn etwas schiefgeht. Sympathie mit den Demonstranten hat Khamenei wohl nicht. Der Wächterrat, ein Hardliner-Gremium, das zur Hälfte von ihm ernannt wird, fordert ein unnachgiebiges Vorgehen gegen die Protestwelle.

Das ist nicht so einfach, denn die Demonstranten lassen sich nicht einschüchtern. Sie rufen zu Streiks auf und organisieren täglich neue Proteste. Es sei deutlich, „dass das Regime eine riesige Furcht vor der Bevölkerung hat“, sagte Gazelle Sharmadh, Tochter des im Iran inhaftierten Deutsch-Iraners Jamshid Sharmadh, dem Tagesspiegel.

Demonstranten skandieren: Tod, dem Diktator. Gemeint ist Ayatollah Ali Khamenei, der mächtigste Mann des Landes.

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Dagegen haben die Demonstranten ihre Angst vor der Staatsmacht verloren. Yeganeh Rezaian, gebürtige Iranerin und Expertin der Pressefreiheits-Organisation CPJ, sieht einen Unterschied zwischen ihrer eigenen Generation, die gegen eine manipulierte Wahl 2009 im Iran protestierte, und den Demonstranten von heute: „Wenn wir damals auf die Sicherheitskräfte trafen, gingen die meisten von uns nach Hause“, sagte sie bei einer Veranstaltung der US-Denkfabrik Atlantic Council. Das sei heute anders. „Die junge Generation sagt: Es reicht.“

Das Regime wirkt verunsichert

Das Regime ist unsicher, wie es damit umgehen soll. Manche Politiker plädieren für Härte, doch einige einflussreiche Persönlichkeiten wie der Groß-Ajatollah Hossein Noori-Hamedani rufen die Behörden auf, den Demonstranten zuzuhören.

Präsident Raisi versuchte bei seinem Fernsehauftritt, beide Positionen gleichzeitig zu vertreten. Er deutete eine Liberalisierung des Kopftuch-Zwanges an, indem er sagte, man könne über die Anwendung von Gesetzen diskutieren. Die Grundwerte der Islamischen Republik erklärte er gleichzeitig aber für nicht verhandelbar. Rädelsführer von Protesten würden zur Rechenschaft gezogen.

Raisi warf dem Ausland vor, die Proteste zu unterstützen, um die Einheit des Iran anzugreifen. Die iranische Revolutionsgarde beschießt seit Tagen Stellungen iranisch-kurdischer Rebellen im benachbarten Irak; dabei sollen bisher 13 Menschen umgekommen sein. Teheran macht die Kurden für die Unruhen mitverantwortlich, weil Mahsa Amini Kurdin war.

Vorwürfe gegen deutsche Botschaft

Die regierungsnahe Zeitung „Tehran Times“ sieht Deutschland hinter der Protestwelle. Die deutsche Botschaft in Teheran diene als Koordinationszentrum der Demonstrationen, behauptete das Blatt. Die Deutschen hätten die Familie von Amini ermuntert, die Behörden zu kritisieren, und den Angehörigen der getöteten Frau deutsche Pässe versprochen.

Während sich Raisis Regierung hinter Verschwörungstheorien verschanzt, schaffen die Demonstranten neue Fakten. Die „Financial Times“ berichtete aus Teheran, die Religionspolizei sei von den Straßen der Hauptstadt verschwunden. Fotos und Videos im Internet zeigen junge Frauen in Teheran, die wie selbstverständlich ohne Kopftuch durch die Stadt gehen. Die Bedeutung dieser Aufnahmen sei immens, schrieb der Iran-Experte Arash Azizi auf Twitter: Sie zeigten „einen Wendepunkt“.

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