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Das „Taschenbuch 13“ (1909-1911) enthält  Notizen zu dem Roman  „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“

© DLA Marbach

Rilkes Nachlass mit über 10000 Seiten: Eine literarische Sensation

Über 100 Jahre lang hat die Familie des Dichters die Schätze bewahrt. Jetzt gehen sie an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach und werden ausgewertet.

Sogleich drängt sich der berühmte Vers auf: „Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern“, aus Rainer Maria Rilkes Gedicht „Archäischer Torso Apollos“. Er, der 1875 in Prag geboren wurde und 1926 bei Montreux verstarb, suchte den hohen Ton und wandelte zwischen den Sternen. Und wenn jetzt das Deutsche Literaturarchiv in Marbach (DLA) Rilkes Nachlass übernommen hat, kann man auch nur von einer Sensation sprechen - von einem „Jahrhunderterwerb“, wie Sandra Richter frohlockt, die Direktorin des DLA.

Schon die schieren Dimensionen des Nachlasses lassen stark vermuten, dass sich das verfestigte Rilke-Bild wandeln und differenzieren wird, wenn die unschätzbaren Dokumente einmal erforscht und ausgewertet sind. Es handelt sich um mehr als 10 000 handschriftliche Seiten. Hinzu kommen etwa 2500 Briefe von Rilke und über 6300 Briefe an ihn. Dazu zählen Korrespondenzen mit Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Paul Klee, Else Lasker-Schüler, Walter Rathenau, Auguste Rodin, Henry van de Velde und Stefan Zweig. Darüber hinaus gibt es mehr als 1300 Briefe Rilkes an die Mutter und über 700 an seine Frau, die Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff.

Ein Arbeiter und ein Hymniker

Auf die Literaturwissenschaft warten 131 bisher unbekannte Zeichnungen Rilkes, teilweise stammen sie aus seiner Kinderzeit. Und 360 Fotografien aus allen Lebensphasen des Dichters, der viel auf Reisen war. Und 420 Bücher seiner Bibliothek. Und Vorarbeiten, Entwürfe und Reinschriften seiner berühmten Gedichtzyklen und Prosawerke. Man hat sich ihn oft als Medium höherer poetischer Mächte vorgestellt. Aber das Material zeigt etliche Korrekturen, verworfene Varianten. Rilke war, wie Sandra Richter schön sagt, ein „Arbeiter am weihevollen Text“.

Es gibt hier viele Besonderheiten, vielleicht Wunder. Hundert Jahre lang haben die Frauen der Familie, beginnend mit Rilkes Mutter, die Papiere des von Mystik umwehten Literaten bewahrt und behütet. Dieses Verdienst gebührt auch dem Insel Verlag. Zuletzt lag der Schatz in Gernsbach im Schwarzwald, bei den drei Urenkelinnen. Sie pflegten das Privatarchiv und entschlossen sich vor gut einem Jahr, an Marbach zu verkaufen. Es seien scheue Wesen, sagt Peter Raue. Der Rechtsanwalt hat den für alle Seiten erfreulichen Deal juristisch begleitet.

Der Einfluss der Frauen

Auch er, der große Kunstliebhaber, strahlt am Donnerstag in der Landesvertretung Baden-Württemberg in Berlin bei der Präsentation des Erwerbs. Die Gefühlslage der Rilke-Nachkommen schwanke nun zwischen „Schmerz und Dankbarkeit“. Schmerz, weil die Urenkelinnen gleichsam eine Lebensaufgabe weggeben. Und dankbar seien sie, dass alles nach Marbach kommt. Dort wird es 2025 eine Ausstellung des Nachlasses geben.

Möglich wurde der Erwerb durch private Stiftungen und die Kulturstiftung der Länder. Auch im Haus der Kulturstaatsministerin Claudia Roth wurden unbürokratisch Mittel locker gemacht. Über die Kaufsumme wurde Stillschweigen vereinbart. Man darf von einem siebenstelligen Betrag ausgehen. Zum Vergleich des eigentlich Unvergleichbaren: Bein Erwerb der 4000 Seiten starken Amerikanischen Reisetagebücher Alexander von Humboldts durch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz waren zwölf Millionen Euro fällig.

Claudia Roth neigt ja zu enthusiastischen Auftritten. Sie nennt Rilke einen „zeitlos modernen“ Dichter, der die Menschen bis heute beschäftige. Sein Werk werfe die Frage auf, was kulturelle Identität in Zeiten des Kriegs bedeute? Brutale Zeitenwende: In Marbach gab es 2017 eine Ausstellung mit dem Titel „Rilke und Russland“, in Kooperation mit dem Staatlichen Russischen Literaturmuseum und dem Schweizerischen Literaturarchiv. Die damalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters lobte die „Pflege dieses gemeinsamen kulturellen Erbes“ und die „Freundschaft zwischen unseren Ländern.“

So rätselhaft wie populär

Das Erstaunliche an Rilke ist, dass er, der Rätselhafte, oft schwer zu entziffernde Dichter, zu unterschiedlichen Zeiten die Herzen der Menschen erreicht. Im Ersten Weltkrieg war sein „Cornet“ Lektüre im Schützengraben. „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von 1910 dürfen als einer der ersten Großstadtromane gelten. Der Schriftsteller Rainald Goetz hat eine spezielle Beziehung zu Rilke. Er sitzt bei der Nachlass-Feier als Zuhörer, leuchtet von innen heraus wie alle Beteiligten an diesem kalten, grauen Berliner Donnerstagnachmittag am Tiergarten.

„Sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber“, heißt es im Gedicht auf Apollo, entstanden 1908 in Paris. Es liest sich fast wie ein Selbstporträt. Wärme und Zuversicht, wer braucht das jetzt nicht? Dafür muss man manchmal weit zurückgehen.

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