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Draußen vor der großen Tür. Das Quartett von „Im Menschen muss alles herrlich sein“.

© Ute Langkafel/MAIFOTO

Vor dem eisernen Vorhang: Sasha Marianna Salzmanns „Im Menschen muss alles herrlich sein“ im Maxim-Gorki-Theater

Vom Roman zum Bühnenstück: Sebastian Nübling inszeniert eine raffiniert minimalistische Variante des Erzählwerks.

Wie startet man als Romanfigur eines üppigen 360-Seiters in eine 90-minütige Bühnen-Adaption, die naturgemäß extrem ausschnitthaft bleiben muss? Der Regisseur Sebastian Nübling hat da eine ziemlich clevere Idee. Zu Beginn seiner Inszenierung von Sasha Marianna Salzmanns Buch „Im Menschen muss alles herrlich sein“ befreien sich die vier Hauptfiguren Lena, Tatjana, Nina und Edita erst einmal aus ihren Romanexistenzen.

In diesem Emanzipationsakt, der bei aller ausdrücklichen Ironie ausgesprochen liebevoll bleibt, treten sie mit Grandezza die Flucht nach vorn an und stellen sich als reale Figuren vor, die von Salzmann interviewt und im Buch später bereits notwendig lückenhaft dargestellt worden seien. Da moniert die eine, dass ihre Story abbreche, während die nächste betont, wie unterrepräsentiert ihre Vorgeschichte bleibe.

So löst man sich als Regisseur also charmant von Vollständigkeits- und inszenatorischen Bebilderungserwartungen – was im Fall von Salzmanns mehrfach preisgekröntem Roman, der 2021 erschien und auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, tatsächlich klug ist. Denn der wartet mit gewaltigen historischen Bögen auf: von der Sowjetunion der 1970er bis ins Deutschland der 2010er Jahre, von der „Fleischwolf-Zeit“ der Perestroika, wie es bei Salzmann heißt, über das postsowjetische Russland und die postsowjetische Ukraine bis ins fast gegenwärtige Jena und Berlin.

Bewegte Migrationsgeschichte

Im Zentrum stehen die toughe Medizinerin Lena (Çiğdem Teke), die ihre sensitive Ader in der Gorki-Inszenierung unter einer Mischung aus Pragmatismus und straightem Aktionismus verbirgt, und die befreundete Tatjana. Beide verbindet die Migrationsgeschichte nach Deutschland in den 90ern.

Wobei Tatjana – gespielt von Anastasia Gubareva – die schnöde Differenz zwischen den Aufbruchsillusionen und der Landung in harten Realitäten sehr deutlich zum Leitthema macht, indem sie immer wieder in den Gesang von „Arlekino“ abdriftet, jenen Alla-Pugacheva-Song aus den 1970ern, den sie zu Beginn als ihr Lieblingslied einführt: Der Ton wird im Verlauf des Abends immer melancholischer, die zugehörige Choreografie ausdrücklich unbeschwingter.

Und dann sind da die jeweiligen Töchter der beiden: die scharfsichtige Journalistin Edita (Yanina Cerón) sowie die jüngere und naiver auf die Welt blickende Nina (Lea Draeger) – Kinder eines anderen Systems. Der übliche Generationskonflikt findet sich bei diesem Quartett ins Historische entgrenzt; die Inkompatibilität der Erfahrungshintergründe führt zu einer spezifischen (und besonders hartnäckigen) Form von Sprachlosigkeit.

Das Maxim-Gorki-Theater, wo Salzmann nicht nur seit langem schreibend in Erscheinung tritt, sondern auch mehrere Jahre lang selbst das Studio leitete, ist bei weitem nicht das erste Haus, das „Im Menschen muss alles herrlich sein“ auf die Bühne bringt.

Reduzierte Variante

Vor einem Jahr hatte Hakan Savaş Mican den Roman am Hamburger Thalia Theater als große weibliche Migrationserzählung urinszeniert. Und an den Münchner Kammerspielen brachte Jan Bosse ihn kürzlich als epischen Dreistünder heraus, quasi im Tschechow-Format (hinter Salzmanns Buchtitel verbirgt sich ein Zitat aus Tschechows „Onkel Wanja“). Auch in Nürnberg und Magdeburg steht „Im Menschen muss alles herrlich sein“ auf den Spielplänen.

Gut möglich, dass Sebastian Nüblings Gorki-Variante tatsächlich die bis dato minimalistischste ist: Sie beschränkt sich konsequent auf die vier mit tollen Spielerinnen besetzten Frauenfiguren – und auf ein zentrales Element: Die Bühnenbildnerin Evi Bauer, die auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, bewegt leitmotivisch den eisernen Vorhang; lässt ihn immer wieder herauf- und vor allem herunterfahren. Die Figuren rennen gegen ihn an, versuchen, ihn eigenhändig zu heben – und werden durch ihn wiederholt vom Rest des Geschehens abgeschnitten, vereinzelt und quasi ausgesperrt.

Als doppeltes Bild – für die Grenzen zwischen den Systemen und als Symbol der Sprachlosigkeit untereinander – funktioniert das ziemlich eindrucksvoll und schafft sogar für die unmittelbare Gegenwart komplexe Verdichtungen. Zu Beginn erzählt Lena etwa von ihrer Kindheit als Musterschülerin: In allen Fächern sei sie erstklassig gewesen, Russisch eingeschlossen.

Nur Ukrainisch habe ihr Probleme bereitet – was ihre Mutter wiederum vollkommen unproblematisch fand: Die Sprache, so habe sie gesagt, sei ohnehin ein Relikt aus alten Zeiten. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und den aktuellen Diskursen gewinnen solche Sätze, zumal kombiniert mit dem besagten eisernen Vorhang, noch einmal eine ganz neue komplexe Dimension. Und wenn der eiserne Vorhang am Ende tatsächlich durchlässig wird, kann es sich leider nur um einen Traum handeln.

Nächste Vorstellungen am 29. Oktober und 13. November

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