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Ein ICE steht an einem Bahnsteig im Berliner Hauptbahnhof.

© picture alliance/dpa/Carsten Koall

Kindheitstraum Lokführer werden: Rettet die 35-Stunde-Woche den Berufsstand?

Weniger arbeiten, bei vollem Lohn. Die Forderung der GDL sei unrealistisch, sagt DIW-Präsident Marcel Fratzscher. Doch die Arbeitsbedingungen sind schlecht und die Bahn braucht Personal.

Seit Mittwoch steht das Land auf weiten Strecken still, denn die Bahn wird noch bis Montagmorgen bestreikt. Die Lockführergewerkschaft GDL fordert eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Branchenübergreifend wie auch im Schienenverkehr werden Forderungen von Beschäftigten nach kürzeren Arbeitszeiten laut, teilweise auch schon umgesetzt. Kann auch die Bahn davon profitieren?

„Grundsätzlich ist es gut, über eine Reduzierung der Arbeitszeit zu sprechen“, sagt DIW-Präsident Marcel Fratzscher. Generell sei durch zahlreiche Studien und Fallbeispiele belegt, dass geringere Arbeitszeiten zu einer höheren Zufriedenheit und Produktivität führen.

Produktivitätsgewinne seien jedoch stark branchenabhängig. „Bei Lokführern ist die Produktivität begrenzt“, sagt Fratzscher – schließlich kann die Zeit, die eine Zugverbindung von A nach B braucht, kaum eingespart werden.

Alle, die in einen ICE oder Regionalzug einsteigen, müssen wissen, dass im Führerstand eine extrem überarbeitete Person sitzt.

Rudolf Hickel, Professor am Institut Arbeit und Wirtschaft (IAW) an der Uni Bremen

„Ich halte die Forderung der GDL nach einer 35-Stunden-Woche für unrealistisch“, sagt Fratzscher. Die Gewerkschaft müsse sich bewusst sein, dass eine Arbeitszeitverkürzung zum jetzigen Zeitpunkt „massiv disruptiv für die Deutsche Bahn, Wirtschaft und Menschen wäre“.

Attraktivere Arbeitsbedingungen schaffen

Der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel findet die Forderung der GDL im aktuellen Konflikt im Grundsatz richtig, „bewusst in die 35-Stunden-Woche mit Lohnausgleich einzusteigen“. Denn die Arbeitsbedingungen für Lokführer:innen hätten sich seit der Privatisierung der Bahn 1994 durch Einsparungen am Personal rapide verschlechtert.

„Alle, die in einen ICE oder Regionalzug einsteigen, müssen wissen, dass im Führerstand eine extrem überarbeitete Person sitzt“, sagt Hickel, Professor am Institut Arbeit und Wirtschaft (IAW) an der Uni Bremen, „die Arbeitsbedingungen sind nicht mehr zumutbar.“

„Die 35-Stunden-Woche kann einen Beitrag liefern, den Beruf wieder attraktiver zu machen“, sagt Hickel. „Wir wissen, dass die Identifikation mit dem Job nach wie vor hoch ist.“ Nicht umsonst träumten Kinder davon, Lokführer:in zu werden. Doch schlechte Bezahlung, Schichtbetrieb und permanent auf Abruf zu sein belastet das fahrende DB-Personal.

„Der Frust unter den Beschäftigten ist groß“, sagt das Mitglied der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“, „so erklären sich dann auch die hohen Erwartungen an die Tarifverhandlungen.“

Die GDL fordert in den Tarifverhandlungen mit dem Bahn-Konzern – neben Inflationsausgleich und mehr Geld – eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit für Schichtarbeitende von 38 auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich. Im Gegenzug hat die Deutsche Bahn (DB) ab 2026 die Wahlmöglichkeit für das Personal, eine Stunde weniger zu arbeiten, in Aussicht gestellt – soweit die Bahn bis dahin genug Personal hat.

Streik der GDL „extrem wirksam“

Die Gewerkschaft hat dies als „Scheinangebot“ abgelehnt und zu einem sechstägigen Streik ausgerufen. Es ist der bisher längste Streik der Gewerkschaft. Personen- wie Güterverkehr sind betroffen, mit weitreichenden Folgen für Fahrgäste und Wirtschaft.

Dennoch sieht Rudolf Hickel den aktuellen Streik kritisch. „Die wertvollen Prinzipien des Tarifvertragssystems werden gerade schwer belastet“, sagt der Professor. So hat unter anderem Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP), dessen Ministerium den Staat als Eigentümer vertritt, das Verhalten der Lokführergewerkschaft scharf kritisiert.  CSU-Generalsekretär Martin Huber hat sogar eine Überarbeitung der geltenden Streikrechte und eine Einschränkung von Streiks bei wichtiger Infrastruktur gefordert

Gerade weil kritische Infrastruktur bestreikt werde, sei der Ausstand laut Hickel „extrem wirksam“. „Aber deshalb muss die GDL auch verantwortungsvoll mit ihrem Streikrecht umgehen.“ Doch auch die Bahn sei gefordert. „Das vorliegende Angebot der Bahn AG hat die Streikbereitschaft verstärkt“, sagt Hickel.  

GDL-Chef Claus Weselsky hat eine positive Zwischenbilanz des laufenden Bahnstreiks gezogen und seine Position noch einmal bekräftigt, erst an den Verhandlungstisch zurückzukehren, wenn es Bewegung seitens der Bahn gebe. Sonst „werden wir wieder streiken. Und dann vielleicht noch länger“, sagte Weselsky bei einer Kundgebung am vierten Streiktag in Dresden.

Die Lösung der derzeit verfahrenen Situation könnte laut Hickel ein Zeitplan hin zur Arbeitsverkürzung sein. Denn das gibt der Wirtschaftswissenschaftler zu bedenken: „Die Bahn wird große Schwierigkeiten haben, die 35-Stunden-Woche umzusetzen.“ Bereits jetzt ist die Bahn notorisch unpünktlich und Verbindungen werden wegen kurzfristigem Personalausfall gestrichen – mit kürzeren Wochenarbeitszeiten würde sich das Problem noch verschärfen.

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DIW-Präsident Fratzscher plädiert im aktuellen Tarifstreit für mehr Flexibilität. „Wir wissen, dass sich manche Beschäftige ihre Arbeitszeiten weniger reduzieren möchten.“ Auch um diesem Teil der Belegschaft gerecht zu werden, sei eine flexiblere Arbeitszeitreduzierung von bis zu drei Stunden praktikabler. Die unabrückbare Forderung der GDL nach 35 Stunden in der Woche ist aus Sicht des Ökonomen zu starr.

35-Stunden-Woche in anderen Betrieben machbar

Erst im Dezember vergangenen Jahres hat die GDL eine 35-Stunden-Woche bei der Bahn-Konkurrenz Netinera mit Tochterunternehmen wie Odeg, Metronom oder Erixx durchgesetzt. Wenngleich die Einigung das Unternehmen „an die finanzielle Schmerzgrenze geführt hat“, begrüße die deutsche Tochter des italienischen Staatsbahn Trenitalia den Tarifabschluss. Es sei ein „wichtiges Signal für mehr Attraktivität der Bahnberufe“, so Alexander Sterr, Mitglied der Geschäftsführung und Arbeitsdirektor von Netinera Deutschland GmbH.

Auch andere Unternehmen, die Regionalbahnen in ganz Deutschland betreiben, und die GDL haben sich auf die schrittweise Einführung von 35 Stunden im Schichtdienst geeinigt – oder verhandeln darüber.

Die Begründung, warum die 35-Stunden-Woche hier doch möglich ist, sei laut DIW-Präsident einfach: „Die Unternehmen sind kleiner“, sagt Marcel Fratzscher, „die DB ist eine ganz andere Größenordnung.“ Außerdem müssten die kleineren Konkurrentinnen attraktiver als die Bahn sein, um noch Personal gewinnen zu können.

Mit ihrer Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten steht die GDL nicht alleine da. Beschäftigte in der Stahlindustrie haben bereits eine Wochenarbeitszeit von 35 Stunden. Auch in der Metall- und Druckindustrie bestehen bereits Tarifverträge mit weniger Arbeitsstunden – als Resultat jahrelanger Auseinandersetzungen und Streiks in den 1980er Jahren.

Zuletzt hat die öffentliche Debatte um kürzere Arbeitszeiten wieder an Fahrt aufgenommen: In der Pandemie wurde eine 35-Stunden-Woche für Pflegekräfte diskutiert. 2024 stehen Tarifrunden mit vergleichbaren Forderungen beispielsweise im Bauhauptgewerbe und Einzelhandel an.

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