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Für 49 Euro durchs ganze Land. Mit dem sogenannten Deutschlandticket soll das ab dem 1. Mai möglich sein.

© imago/photothek

Familien, Pendler, Geringverdiener: Wer vom Deutschlandticket profitiert – und wer nicht

Verkehrsminister Wissing ist überzeugt: Das 49-Euro-Ticket wird ein Erfolg. Mobilitätsforscher hingegen kritisieren vertane Chancen – und sehen wenig Nutzen fürs Klima.

Das Thema hat Volker Wissing aus dem Effeff drauf: „52 Millionen Mal wurde das Neun-Euro-Ticket im vergangenen Jahr gekauft – damit war klar, das muss weitergehen.“ Am kommenden Montag, den 1. Mai, startet sein Nachfolger, das 49 Euro teure Deutschlandticket. „Der ÖPNV hat geliefert.“ Noch so ein Satz, den der Bundesverkehrsminister dieser Tage häufig sagt.

Und der so gelobte öffentliche Personennahverkehr nimmt solche Aussagen gerne auf: Für Ingo Wortmann jedenfalls steht ein Erfolg des Tickets außer Frage. Schon vor dem Start habe man 750.000 neue Kunden für den ÖPNV gewinnen können, sagt der Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).

Die Erfolgsgeschichte des Neun-Euro-Tickets, das Sommermärchen des ÖPNV, wird also als Dauerwerbesendung fortgeschrieben – oder nicht? Fragt man Mobilitätsforscher:innen, was sie vom Deutschlandticket erwarten, fällt die Einschätzung nüchtern aus. Die Expertinnen und Experten glauben nicht daran, dass das Deutschlandticket in seiner jetzigen Form an den Erfolg des Vorgängers anknüpfen kann.

Wir gehen nicht davon aus, dass diese Maßnahme alleine beträchtliche Mengen an CO₂ verringert.

Mark Andor vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI)

Zwar könnte das Ticket für eine bestimmte Gruppe von Haushalten, insbesondere Pendlerinnen und Pendler mit guter ÖPNV-Anbindung, dazu führen, dass sie auf ihr Auto oder eines ihrer Autos verzichten. Für diese Gruppe könne das zu starken Mobilitätsverlagerungen führen, sagt Mark Andor vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI). Bisherige Erfahrungen mit kostenlosen ÖPNV-Angeboten und mit dem Neun-Euro-Ticket deuteten jedoch darauf hin, dass kein starker Rückgang der Autonutzung zu erwarten sei.

„Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist diese Gruppe voraussichtlich zu klein, um einen substanziellen Einfluss auf die aggregierten CO₂-Emissionen zu nehmen“, so der Forscher weiter. Dementsprechend gering sei die Klimawirkung des Tickets. „Wir gehen nicht davon aus, dass diese Maßnahme alleine beträchtliche Mengen an CO₂ verringert“, sagt Andor.

Verkehrsforscher sehen Bestandskunden im Fokus

Auch Gernot Liedtke vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) geht nicht davon aus, dass es einen ähnlichen Run auf das Deutschlandticket geben wird, wie dies beim Neun-Euro-Ticket während des dreimonatigen Aktionszeitraums im Sommer vergangenen Jahres der Fall war. Ein Grund dafür ist der deutlich höhere Preis.

„Das neue Deutschlandticket gleicht in seiner Struktur eher einem normalen Abonnement für den öffentlichen Nahverkehr“, sagt Liedtke. Der Professor leitet am DLR die Abteilung Verkehrsmärkte und Angebote am Institut für Verkehrsforschung sowie das Fachgebiet für Wirtschaftsverkehr am Institut für Land- und Seeverkehr der Technischen Universität Berlin.

Liedtke hat mit seinem Team bereits zum Neun-Euro-Ticket geforscht. Bei diesem sei die Attraktivität vor allem im günstigen Preis begründet gewesen, sagt der Professor. Dieser Anreiz falle mit den deutlich höheren Kosten jedoch nun geringer aus. Liedtke geht davon aus, dass vor allem diejenigen das Ticket kaufen werden, die den ÖPNV bereits heute nutzen. „Für sie lohnt sich das Angebot.“

In Tarifverbünden, die sich über mehrere Zonengrenzen erstrecken, kann ein Monatsticket heute bis zu 200 Euro kosten. „Das Deutschlandticket stellt für viele Menschen dementsprechend eine große finanzielle Entlastung dar und senkt die Kosten für Mobilität, vor allem in Zeiten der Inflation.“

Unterm Strich dürfte das Angebot zu Stoßzeiten und auf bestimmten Strecken zu volleren Bussen und Zügen führen. „Gut möglich, dass kaufkräftige Menschen infolgedessen künftig häufiger zum 1.-Klasse-Ticket greifen, um überfüllten Zügen zu entgehen.“

Die Chance wird versäumt, Kindern klimafreundliche Mobilitätsroutinen zu vermitteln.

Gernot Liedtke vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) 

Liedtke geht davon aus, dass das Deutschlandticket mittel- und langfristig das Mobilitätsverhalten der Menschen verändern wird, „zum Beispiel, indem Reisende an ihren Urlaubsorten Bus und Bahn nutzen, um von A nach B zu kommen“. Machen sie dort gute Erfahrungen, könnten sie infolgedessen auch im Alltag häufiger den ÖPNV nutzen. „Für Kinder ergibt sich dadurch eine Vorbildfunktion: Fahren die Eltern regelmäßig Bus und Bahn, verliert der eigene Pkw und der Führerscheinerwerb an Bedeutung.“

An dieser Stelle sieht der Forscher jedoch auch eine vertane Chance bei der Konstruktion des neuen Angebots: Dass Eltern im Besitz eines Deutschlandtickets ihre Kinder nicht kostenlos mitnehmen dürfen, schränke die Effekte ein, bemängelt er. „Familien werden voraussichtlich weiter häufiger mit dem eigenen Auto unterwegs sein, weil das Ticket für eine vierköpfige Familie nicht erschwinglich ist. Damit wird die Chance versäumt, Kindern klimafreundliche Mobilitätsroutinen zu vermitteln.“

Sozialticket zu reduziertem Preis würde Rentnern helfen

Auch Mobilitätsforscherin Claudia Hille findet: „Kinder und Familien wurden im Zuge der Debatte um das Neun-Euro-Ticket und dessen Nachfolgeangebot vernachlässigt.“ Dabei könnten vor allem Kinder und Jugendliche von einem günstigen Nahverkehrsticket profitieren, glaubt sie. Ihnen würde damit die Möglichkeit eröffnet, selbstständig zum Fußballtraining oder zu einem Freund im Nachbarort zu kommen. Auch, wenn das Elterntaxi nicht fährt.

Zwar gebe es vereinzelt Bundesländer, die zusätzlich vergünstigte Tickets für Schüler:innen oder Transferleistungsempfänger:innen anbieten würden. „Im Moment gibt es jedoch einen Flickenteppich an Tarifen und Zusatzangeboten“, kritisiert die Forscherin. Sie plädiert deshalb für bundesweit vergünstigte Schüler- und Sozialtickets für maximal 29 Euro. Damit würde auch ökonomisch schwächer gestellten Menschen die Möglichkeit geboten, dem Tarifdschungel regionaler Verkehrsverbünde zu entkommen.

Ich gehe davon aus, dass wir den Preis erhöhen müssen.

VDV-Präsident Ingo Wortmann

Eine Studie zum Neun-Euro-Ticket in der Region rund um die thüringische Landeshauptstadt Erfurt im vergangenen Jahr habe gezeigt, dass vor allem Menschen mit geringem Einkommen – Rentner, Alleinerziehende oder Migrant:innen – von dem vergünstigten Ticket profitierten. Sie hätten sich Fahrten zum Arzt oder zu Freunden leisten können, die vorher nicht möglich waren. Den Preis von aktuell 49 Euro für das Deutschlandticket hält Hille für diese Gruppe für zu hoch.

„Die Effekte des Neun-Euro-Tickets werden durch den höheren Preis natürlich abgeschwächt, aber sie sind da“, erwartet Mark Vollrath, Professor für Verkehrspsychologie an der TU Braunschweig. Vollrath hat mit seinem Team im Sommer und Herbst letzten Jahres eine der größten Befragungsstudien zum Neun-Euro-Ticket gemacht. Es habe durchaus einen wahrnehmbaren Umstieg vom Auto auf Bus und Bahn gegeben. Der dürfte nun geringer ausfallen.

Einen deutlichen Rückgang erwartet Vollrath vor allem bei den Reisen, die ohne das Ticket gar nicht erst angetreten würden. Viele Kundinnen und Kunden hätten im vergangenen Sommer das Neun-Euro-Ticket für Tagestouren genutzt, doch für reine Juxfahrten sei der Preis von 49 Euro im Abo wenig attraktiv. Insgesamt gebe es noch viel Potenzial, das Ticket attraktiver zu gestalten. „Es ist ein Schritt in die richtige Richtung – kein Riesenbeitrag zur Verkehrswende.“

VDV-Präsident Ingo Wortmann bereitet die Fahrgäste derweil bereits auf höhere Kosten vor. „Ich gehe davon aus, dass wir den Preis erhöhen müssen“, sagt er. Es liege an der öffentlichen Hand, dafür zu sorgen, dass die absehbare Preiserhöhung nicht allzu stark ausfalle. Vor allem dort, wo viel es Freizeitverkehr gebe, müsse das Angebot langfristig verbessert werden. Das wird kosten.

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