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Unverzagt und mit festem Blick zieht er in die Schlacht: der Feldherr Alexander, wie er auf einem römischen Bodenmosaik aus Pompeji dargestellt wird. 

© Getty Images/iStockphoto/Simone Crespiatico

Berliner Forschung zu Alexander dem Großen : Ein immer neu erzählter Mythos

Zerstörer, Vermittler, Lebemann? Wie der Herrscher Alexander lebte, darüber wird seit der Antike fabuliert. Eine Vortragsreihe an der FU Berlin stellt jetzt vor, welche Bilder von ihm zu welchen Zeiten populär waren.

Von Katharina Rudolph

Als Alexander der Große 323 v. Chr. in Babylon im heutigen Irak starb, war er gerade einmal 32 Jahre alt. Er hatte, nachdem er 336 seinem Vater Philipp II. auf den makedonischen Thron gefolgt war, innerhalb von rund zwölf Jahren ein riesiges Reich erobert, das sich von der kleinasiatischen Küste bis nach Indien erstreckte. Vom König über Makedonien und Hegemon der Griechen war er zum Herrscher über große Teile Asiens geworden.

Unentwegt hatte er Kriege geführt und kam, nachdem er 334 v. Chr. die Meerenge Hellespont, die heutigen Dardanellen, überquert hatte, nie wieder in seine Heimat zurück. Alexander war ein rastloser Mann mit einem unstillbaren, ja zwanghaften Verlangen nach immer neuen Eroberungen. Er wollte es seinen Vorbildern, den mythischen Helden Herakles und Achill, an Ruhm und Ehre gleichtun.

Gestorben ist der große Alexander wohl „nach einem Saufgelage an irgendeinem Fieber“, so schildert es die Altphilologin Melanie Möller lapidar – ein eher unheroisches Ende. Über die genauen Ursachen von Alexanders Tod herrscht bis heute Unklarheit: War es eine Infektion? Eine absichtliche oder versehentliche Vergiftung? Oder einfach zu viel Alkohol? In jedem Fall sei sein Ableben „anekdotenhaft aufgeladen“, erläuterte Möller in ihrem Antrittsvortrag zu einer interdisziplinären Ringvorlesung, die derzeit an der Freien Universität Berlin stattfindet. Sie spürt dem Nachleben Alexanders des Großen über verschiedene Kulturen und Epochen hinweg nach – und richtet sich an eine breite Öffentlichkeit.

Eine historische Figur, die auf Ankedoten fußt

Eine Einführung über das Leben Alexanders braucht es gar nicht: Die Rekonstruktion seines Lebens ist, aufgrund fehlender früher Quellen, im Grunde nur über sein Nachleben möglich. Über Texte also, die von griechischen und lateinischen Autoren verfasst wurden, als Alexander schon Jahrhunderte tot war. Möller untersucht Alexanders Leben in antiken Anekdoten.

Die Knobelaufgabe des Gordischen Knotens soll Alexander einfach mit seinem Schwert gelöst haben. Ein Ölgemälde von Jean-Simon Berthelemy aus dem 18. Jahrhundert stellt die Szene dar.

© mauritius images / Alamy Stock Photos / World History Archive/Alamy Stock Photos / World History Archive

Zu denen zählt etwa die Zerstörungswut des makedonischen Feldherrn, die Möller in ihrem Vortrag aufgreift. Die Stadt Theben beispielsweise, die 335 den Aufstand geprobt hatte, wurde von Alexander geplündert und dem Erdboden gleichgemacht, 6000 Menschen seien getötet, 30.000 versklavt worden, nur das Haus des Dichters Pindar habe Alexander verschont, weil ihm dessen Siegeslieder so gefielen.

Verschiedene Kulturen nutzten die Heldenerzählung für sich

Außerdem habe er immer sein Exemplar der „Ilias“ von Homer bei sich gehabt. Schon als Kind vermochte er ein wildes Pferd zu zähmen, weil er erkannte, was niemand anderes sah – dass das Tier, Bukephalos, sich bloß vor seinem eigenen Schatten fürchtete. Tief beeindruckt soll sein Vater daraufhin zu ihm gesagt haben: „Mein Sohn, such dir ein Reich, das deiner würdig ist; denn Makedonien ist zu klein für dich.“ So zumindest überliefert es Plutarch, der um 100 n. Chr. eine Biografie Alexanders vorlegte.

„Das Nachleben Alexanders ist nach Dauer, Intensität und geographischer Verbreitung einzigartig. Wie keine andere historische Gestalt ist er weit über die Grenzen Europas bis tief in die muslimische Welt Asiens hinein vorgedrungen und dabei zu einem Symbol geworden, dem die unterschiedlichsten Bedeutungen verliehen wurden“, schreibt der Althistoriker Hans-Ulrich Wiemer in seiner Studieneinführung über den Makedonen-König.

Alexanders früher Tod ließ, zusammen mit einem ereignisreichen Leben und einer problematischen, fragmentarischen Quellenlage von Beginn an reichlich Raum für Legenden und trug so dazu bei, ihn gewissermaßen unsterblich zu machen. Über die Jahrhunderte lebte Alexander – oder vielmehr der Mythos Alexander – in ganz verschiedenen Ausprägungen fort. Und er tut es bis hinein ins 21. Jahrhundert: Man denke an den monumentalen Film von Regisseur Oliver Stone aus dem Jahr 2004.

Dass die Lebensgeschichte der Figur im Lauf der Geschichte von verschiedensten Kulturen vereinnahmt wurde, macht die Forschung des Anglisten Andrew Johnston und seinen Kolleg:innen am Exzellenzcluster „Temporal Communities“ deutlich. Dort geht es gerade darum, wie Literatur Kategorien von Nation oder Epoche überwindet – Alexander der Große passt da ausgezeichnet. Seit der Spätantike machte der sogenannte Alexanderroman, der in immer neuen Sprachen und Übertragungen erschien, weite Kreise mit einer mehr und mehr verklärten und verzerrten Alexander-Figur vertraut. „In Indonesien wurde Alexander in einen frommen Muslim verwandelt, das Mittelalter sah ihn als edlen Ritter“, so Johnston. Und wie sah ihn das 20. Jahrhundert?

Wie aufgeschlossen und modern war der Herrscher?

Eine Antwort auf die Frage findet man im Werk einer in Deutschland kaum bekannten Schriftstellerin, erzählt Johnston: Mary Renault, die 1905 in London geboren wurde und 1983 in Kapstadt starb. Renault ist im englischsprachigen Raum eine der erfolgreichsten Autor:innen von historischen Romanen im 20. Jahrhundert. Ihre Bücher verkauften sich zu ihren Lebzeiten gut. Gerade erlebt sie in ihrer Heimat eine Renaissance. Wegen der Komplexität ihrer Werke, in die viel historische Forschung einfloss, wurde sie von der Literaturkritik geschätzt. Zwischen 1969 und 1981 schrieb sie neben einer Biografie auch drei Romane über Alexander. Für Johnston lässt sich anhand ihrer Darstellungen fragen: War Alexander homosexuell? Kann man die Figur vielleicht sogar postkolonial lesen?

Schon in antiken Texten wurde Alexanders Offenheit gegenüber fremden Kulturen geschildert. Sie zeigte sich etwa daran, dass er nach der Eroberung des Achämenidenreichs begann, das persische Königsgewand zu tragen, was innerhalb der eigenen Reihen durchaus kritisch gesehen wurde.

In Indonesien wurde Alexander in einen frommen Muslim verwandelt, das Mittelalter sah ihn als edlen Ritter.

Andrew James Johnston, Literaturwissenschaftler

Renault schildert 1969 in „Fire from Heaven“, dem ersten Roman der Alexander-Trilogie, eine Episode von dem gerade einmal zwölfjährigen Königssohn. Um seine Männlichkeit zu beweisen, läuft dieser heimlich vom makedonischen Hof davon und greift in einen Kleinkrieg in den nördlichen Regionen des Reiches ein. Dort leben „primitive“ Völker, die für Philipp II. als Söldner kämpfen. Alexander gewinnt durch Einfühlung die Akzeptanz der „wilden“ Krieger und tritt schließlich als ihr Anführer auf. Schon das Kind ist in der Lage, sich dem Fremden anzuverwandeln.

Die Darstellung als Vermittler bleibt eine koloniale Beschönigung

Renault zeigt Alexander als einen Mittler zwischen einer archaischen Welt auf der einen Seite und einer modernen, zivilisierteren auf der anderen. Doch was aus mancher Perspektive auf den ersten Blick positiv wirken mag – Alexander als ein Wanderer zwischen den Welten –, offenbart sich bei genauerem Hinsehen als kolonialer Topos.

„Die Idee, dass jemand die faszinierende Fähigkeit besitzt, sich in die Rolle der ‚Anderen‘, der ‚edlen Wilden‘ hineinzuversetzen, ist typisch für eine bestimmte Form von kolonialem britischem Helden“, erklärt Johnston in seinem Vortrag. Und nennt als zugespitztes Beispiel Lawrence von Arabien, der sich den Beduinen in seiner Lebensweise nicht nur annäherte, sondern einer von ihnen werden wollte.

Andrew James Johnston, Professor für Englische Philologie mit Schwerpunkt Literatur des Mittelalters und der Renaissance an der FU Berlin und Sprecher des Exzellenzclusters „Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective“

© EXC 2020 Temporal Communities

Sobald die kolonialisierten Völker allerdings den umgekehrten Weg gehen wollten, handelte es sich um eine „zu verachtende Mimikry“. Mary Renaults Alexander spiegelt die Sozialisation der Autorin, die zwischen den beiden Weltkriegen groß wurde, in einer Zeit, in der koloniale Denkstrukturen tief in der britischen Gesellschaft verwurzelt waren.

Die Idee, dass jemand die faszinierende Fähigkeit besitzt, sich in die Rolle der ‚Anderen‘, der ‚edlen Wilden‘ hineinzuversetzen, ist typisch für eine bestimmte Form von kolonialem britischem Helden.

Andrew James Johnston

Und queere Aspekte? Mary Renault war lesbisch und hat in ihren Romanen immer wieder gleichgeschlechtliche Beziehungen thematisiert. Auch ihr Alexander ist schwul. Seine Freundschaft, Liebe und sexuelle Begierde gelten dem etwa gleichaltrigen makedonischen Adeligen Hephaistion, den auch die antiken Quellen kennen und mit dem er bei Renault eine handfeste Beziehung führt. Doch für aus heutiger Perspektive avancierte Genderdiskurse tauge ihr Werk nicht, bemerkt Johnston.

Ein antikes Ideal von Homosexualität

Denn während es hier um das Aufweichen von Geschlechtergrenzen geht, schwingt bei Renault dagegen eine Art Männlichkeitskult mit. Nach dem Motto: „Schwul ist okay, aber es müssen schon echte Männer sein.“ Alexander und Hephaistion sind Repräsentanten einer Kriegerkultur. Das homoerotische Band zwischen den beiden ist geknüpft an das gemeinsame Erleben im Krieg.

In diesem Sinne ist Renaults Darstellung typisch antik. Die erotische Färbung einer Freundschaft zwischen Männern war, etwa nach Platon, bekanntlich nicht nur erlaubt, sondern, als deren Steigerung, sogar erwünscht. Das bedeutete allerdings keineswegs sexuelle Freiheit. Die gemeinsame Zugehörigkeit zur herrschenden aristokratischen Schicht war wichtige Voraussetzung für die gesellschaftliche Akzeptanz solcher Beziehungen.

Für die Geschichte der Emanzipation von Schwulen und Lesben in der englischsprachigen Welt ist Mary Renault von enormer Bedeutung, weil es ihr mit der Alexander-Trilogie und vielen anderen Werken gelang, „schwule Hauptfiguren ins Zentrum der etablierten Mainstream-Kultur zu bringen“. Und zwar zu einer Zeit, als homosexuelle Handlungen zwischen Männern in Großbritannien und vielen anderen Ländern noch mit schweren Strafen belegt waren. Dennoch war Renaults Bild von Homosexualität, zumindest im ersten Alexanderroman, „in jenes typisch europäische, weiße Bild der idealen Kultur des antiken Griechenlands gekleidet“.

Mit ihrem zweiten Alexanderroman „The Persian Boy“ von 1972 gelang es der Autorin allerdings, zumindest bis zu einem gewissen Grad aus tradierten Denkstrukturen auszubrechen. Wer sich dafür interessiert, kann Johnstons Vortrag – wie alle der Ringvorlesung – auf der Website der Freien Universität ansehen.

Die Achillesferse des großen Herrschers soll übrigens nicht am Fuß, sondern sein Hals gewesen sein. Dort plagte ihn eine Verletzung, an der er lange laborierte und die mancher Erzählung zufolge ursächlich gewesen sei für seinen Tod – was eines gottgleichen Heroen freilich weitaus würdiger gewesen wäre als etwa eine Alkoholvergiftung.

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