zum Hauptinhalt
Viele Rentner:innen aus Deutschland, darunter auch viele Deutsch-Türken und Kurden, verbringen ein Großteil ihrer Rente in Orten wie Alanya, wo der Lebensunterhalt günstiger ist.

© imago/Karina Hessland

Grenzforschung an der Viadrina: Was Europa trennt und verbindet

An der Viadrina in Frankfurt (Oder) wird erfoscht, wie Landesgrenzen in den Alltag hineinwirken. Im Fokus stehen weniger die Aufregerthemen der Migration als der Alltag von Menschen in Grenzgebieten.

„Grenzen in Bewegung“: Je nachdem, in welchen politischen Zusammenhang man dieses Sprachbild setzt, könnte der Name des Forschungszentrums an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) durchaus als Provokation missverstanden werden. Zu zahlreich sind derzeit die Konflikte um Landesgrenzen und nationale Souveränität: ob im Krieg Russlands gegen die Ukraine, bei der Blockade von Bergkarabach durch Aserbaidschan oder in Bezug auf kleinere, aber hartnäckige Separationsbewegungen wie die der Katalanen in Spanien.

Doch steht der Titel des Zentrums „(B)Orders in Motion“ in erster Linie für das Konstrukt der Staatsgrenze, das nun mal mit Spannungen einhergeht. Zum einen, weil Grenzen nicht natürlich gewachsen sind, sondern meistens von Besatzer- oder Kolonialmächten mit Gewalt gesetzt wurden. Und zum andern, weil sie mit einer altbekannten Spannung einhergehen: Abgrenzung braucht es – ob für Staaten oder ein andere Gemeinschaften – auch immer, um Gestalt anzunehmen und eine innere Ordnung zu finden.

Schaut man sich die Forschungsprojekte des Zentrums an, steht hier jedoch weniger politische Theorie im Mittelpunkt. Es geht den Forschenden, die hier auch Polnisch, Türkisch oder Serbokroatisch sprechen, vielmehr darum, wie sich Menschen zwischen zwei Ländern oder in Grenzregionen ihr Leben einrichten, welche Sprache sie in welchem Kontext sprechen – oder darum, wie durch bestimmte Gesetze länderübergreifende Schicksalsgemeinschaften entstehen.

Viele Facetten von Migration

Die Sozialanthropologin Kira Kosnick leitet das Viadrina-Zentrum und forscht derzeit zur sogenannten Ruhesitzmigration von Deutschland in die Türkei. Damit sind Rentner:innen gemeint, die einen Großteil des Jahres im Ausland verbringen, oft aber noch in der Heimat gemeldet sind. Dazu hat Kosnick mit ihrem Team Zugezogene beziehungsweise ältere Dauergäste in dem kleinen Tourismusort Alanya befragt, wie das Jahr über wohnen, wie sie finanziell aufgestellt sind, welche Probleme sie haben.

Kira Kosnick, Sozialantropologin von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), leitet das Forschungszentrum (B)Orders in Motion.

© Kira Kosnick

„Das sind Leute, die in Deutschland mit ihrer Rente nicht mehr den Lebensstandard erreichen können, den sie sich wünschen“, sagt Kosnick, sei es wegen hohen Mieten oder Inflation. Viele von ihnen seien Deutsch-Türken. Wer darunter selbst Arbeitsmigrant in Deutschland sei, müsse bei der Rückkehr immer bedenken: „Wie lange darf ich in der Türkei sein, ohne meinen Aufenthaltsstatus in Deutschland zu verlieren?“

Ein Gesetz, mit dem der türkische Staat eigentlich syrische Geflüchtete aus den Innenstädten fernhalten und stattdessen reiche Investoren anziehen möchte, treffe nun auch die vergleichsweise privilegierten Ruhesitzmigrant:innen, erklärt Kosnick. „In bestimmten Vierteln, so auch in Alanya, dürfen Ausländer nur noch mit Genehmigung eine Wohnung mieten – oder man muss kaufen.“ Für Kosnick zeigt dieses Beispiel, dass für ein Verständnis von Migration starre Kategorien nicht weiterhelfen, da „eigentlich ganz verschiedene Gruppen“ plötzlich vom selben Gesetz zur Regulierung der Zuwanderung betroffen sein können.

Lokale Effekte von EU- und Landesgesetzen

Das Zentrum widmet sich aber auch Themen, die in Medienberichten über Europas Grenzen öfter aufgegriffen werden, wie etwa die „Balkanroute“. Carolin Leutloff-Grandits, ebenfalls Sozialanthropologin, erzählt, wie sie 2020 in die ländliche Grenzregion Kroatiens zu Bosnien-Herzegowina zurückkehrte, wo sie bereits Anfang der 2000er für ihre Doktorarbeit geforscht hatte. Damals sprach sie mit den überwiegend serbischen Anwohner:innen über die Rückkehr nach dem Jugoslawienkrieg: Die Serben hatten das Gebiet fünf Jahre besetzt, Kroatien es zurückerobert.

Blick auf das kroatische Örtchen Donji Lapac: Nicht weit endet mit der Grenze zu Bosnien und Herzegowina die Europäische Union.

© Getty Images/The Walker

Beim zweiten Forschungsaufenthalt, 2020, reiste sie mit ihrem Team zum Ort Donji Lapac: diesmal, um die Anwohner über die Migration aus dem globalen Süden zu befragen. „Der Bevölkerung ist bekannt, dass es hier zu gewaltsamen Pushbacks kommt“, sagt Leutloff-Grandits. Seitdem Ungarn 2015 einen Zaun zu Serbien und Kroatien errichtete, versuchen Menschen, die meist ohne Papiere über die Mittelmeerregion nach Europa kommen, es mehr und mehr über die bosnisch-kroatische Grenzregion.

Geprägt durch den Krieg

„Für die lokale Bevölkerung von Donji Lapac wurde die Grenze zu Bosnien und Herzegowina plötzlich auch als EU-Außengrenze deutlich“, betont die Forscherin. Denn nun werde sie von mobilen Polizeieinheiten gesichert.

In den Interviews mit Bürger:innen und Behörden sei ein Zwiespalt deutlich geworden: „Zum einen zeigte sich durchaus Sympathie mit den Geflüchteten, zumal sie dieses Schicksal selbst erlebt haben. Zum anderen wurde die lokale Bevölkerung angehalten, bei illegalen Grenzüberschreitungen die Polizei zu rufen.“ Als serbische Minderheit stehe die Bevölkerung zudem „besonders stark unter der Beobachtung des kroatischen Staats, daher überwiegt die Tendenz, nichts falsch machen zu wollen.“

Die Spannbreite des seit zehn Jahren bestehenden Zentrums „B(Orders) in Motion“ ist groß. In der Kulturwissenschaft beheimatet, überwiegt hier eine Forschungsperspektive, die sich für Lebensrealitäten, Sprachgebrauch und sozialen Strukturen interessiert. Dazu gehören auch ganz praktisch ausgerichtete Projekte: Die Sprachwissenschaftlerin Dagna Zinkhahn zum Beispiel begleitete eine Fortbildung für Notfallsanitäter im Brandenburgischen Strausberg, die sich an junge Menschen aus Polen und Deutschland richtete. Die Ergebnisse sollen für eine bessere Ausbildung in der Region genutzt werden, zweisprachige Angebote sind nämlich eher eine Seltenheit.

Grenzen der Wissenschaft

Bei manchen Schicksalen, denen die Forschenden begegnen, bleibt am Ende die Frage: Kommt man bei Feldforschung, die sich so nah an den humanitären Katastrophen bewegt, nie in Konflikt mit seiner passiven Rolle als Beobachterin? Für Leutloff-Grandits ist wichtig, zwischen den Rollen unterscheiden. Ebenso wie zu helfen, zähle die wissenschaftliche Arbeit, „zu zeigen, zu beobachten und zu analysieren“, was genau passiert. „Dafür braucht es Zeit, auch Distanz.“

Für Kosnick geht es im Beschreiben auch darum „die Wahrheit zu sagen“, wenn etwa Regierungen oder die EU versuchten, Menschenrechtsverstöße unter den Tisch zu kehren. „Dann ist es als Wissenschaftler:innen unsere Pflicht zu sagen, das passiert aber.“ In diesen Zeiten sei das „ein hochpolitischer Akt“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false