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Selenskyi, zugeschaltet in die Europa-Universität Viadrina.

© dpa/Patrick Pleul

Update

„Habt keine Angst, alles zu verändern!“: Wolodymyr Selenskyj spricht zu Studierenden in Berlin und Brandenburg

Der ukrainische Präsident spricht zu Studierenden der Humboldt-Universität und der Viadrina – und findet dabei auch positive Botschaften.

„Habt keine Angst, alles zu verändern und nach vorne zu schauen!“ Diesen Appell richtet der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an Studierende in Berlin und Brandenburg – denen er live per Video aus Kiew zugeschaltet ist. Der Humboldt-Universität und der Europa Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) ist es gelungen, rund eine Stunde der kostbaren Zeit des Staatsmanns zu gewinnen. Und so den jungen Menschen die Gelegenheit zu geben, ihre Fragen zum Krieg und zur Zukunft der Ukraine zu stellen.

Für den Austausch per Livestream versammeln sich am Dienstagnachmittag im Fritz-Reuter-Saal der HU gut 250 Menschen. Die meisten von ihnen Studierende, auch einige ältere Zuschauer:innen sind dabei. Man ist gespannt auf den Austausch, manche zieht auch eine gewisse Faszination an, auf diese Weise mit der Zeitgeschichte in Berührung zu kommen: Das hört man auf Nachfrage, während die Gäste ihre Plätze einnehmen. In jedem Fall eine einmalige Gelegenheit – auch für die Außenwirkung der beiden Unis, die diesen Moment ermöglichen.

Der Präsident, in dunklem Pulli mit goldenem ukrainischen Dreizack, beginnt sein rund zehnminütiges Eingangsstatement mit einem Dank: „Ich bin dankbar für alles, was Deutschland tut, um unser Land zu unterstützen.“ Deutschland sei in einer „führenden Position“ bei der Hilfe für die Ukraine: „Deutschlands Politik hat sich von der russischen Perspektive befreit und sieht nun anders auf uns.“

Selenskyj berichtet danach unter anderem von der aktuellen Situation in seinem Land, insbesondere auch von den Folgen des russischen Angriffs auf ein Wohnhaus in Dnipro: „Russland hat das Grauen in unseren Alltag gebracht.“ Er gibt den Studierenden einen kurzen historischen Exkurs zum russischen Imperialismus, der die Wurzel des Krieges sei: „Ihr seid jung, Ihr habt nicht erlebt, wie die sowjetische Herrschaft unsere Gebiete unter ihrer Hand gehalten hat.“ Seine Hauptbotschaft ist eine positive: Er sei zutiefst davon überzeugt, dass Demokratien immer stärker seien und „immer gewinnen werden“.

Russland hat sich vertan in der Einschätzung der Ukraine und Europas.

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine

Seine Hauptbotschaft ist eine positive: Er sei zutiefst davon überzeugt, dass Demokratien immer stärker seien und „immer gewinnen werden“: „Russland hat sich vertan in der Einschätzung der Ukraine und Europas.“ Die Ukraine, Deutschland und die gesamte freie Welt würden zusammenstehen.

Im Anschluss beantwortete Selenskyj Fragen von Studierenden, die zum Beispiel etwas zu sexualisierter Gewalt im Krieg oder demokratische Reformen in der Ukraine wissen wollen. Er geht dabei auch auf kritische Fragen ein – etwa, warum die Ukraine Parteien verboten habe. Dies betreffe nur die Parteien, die von Russland finanziert wurden, antwortet Selenskyj. Einer Studentin aus Frankfurt, die über ein Hilfsprojekt für die Ukraine berichtet, ruft er zu: „Das ist ein super Job!“

„Ich habe gesehen, wie meine Uni von russischen Raketen getroffen wurde“, erzählt eine andere ukrainische Studentin der Viadrina. Sie dankt Selenskyj für seine bestärkenden Worte. Aktuell setzt sie in Frankfurt ihr Studium fort – ihre Zukunft sieht sie aber klar in der Ukraine: „Das Wissen, das ich hier erwerbe, will ich in die Ukraine nach dem Krieg reinvestieren.“ 

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Interessierte verfolgten das Gespräch mit Selenskyj zusätzlich per Livestream

Die Frage, wie es nach der Befreiung des Landes einmal weitergehen soll, beschäftigte viele im Publikum. So auch Fiona Papajani, eine Studentin der Sozialwissenschaftem der HU, die sich besonders für internationale Politik interessiert, wie sie vor der Veranstaltung erzählt. Sie hat Glück und bekommt das Mikrofon in der Fragerunde: „Wie kann die Ukraine nach dem Krieg wieder ihr Land aufbauen – angesichts der verheerenden Infrastrukturschäden?“

Der wichtigste Faktor für die Rückkehr der Bevölkerung sei die Sicherheit, macht Selenskyj in seiner Antwort deutlich: Erst dann könne man mit dem Wiederaufbau von Wasser- und Stromversorgung sowie der Produktionsstätten beginnen. „Ich kann jetzt noch nicht sagen: Kommt zurück! Auch wenn viele davon träumen.“ Zunächst müsse garantiert sein, dass „der Himmel geschützt“ ist, man erwarte glücklicherweise weitere Flugabwehrsysteme. Für alle Unis und Schulen solle es in der Zukunft zudem Schutzkeller geben. 90 Prozent der Bevölkerung dürften nach dem Krieg zurückkehren, schätzt der Präsident.

Im Publikum an der Humboldt-Uni ist auch der ukrainischer Botschafter Oleksij Makejew. Dieser übernimmt kurzfristig, als sich Selenskyj für einige Minuten entschuldigen muss: Das Telefon ruft. Auch hier zeigt sich Selenskyj zugewandt – und erklärt mit seinem trockenen Humor: „Es ist nicht so, dass ich selbst spontan Gesprächsbedarf hätte. Aber die Streitkräfte haben gerade angerufen.“

Entsprechend warm ist die Stimmung im Fritz-Reuter-Saal der HU. Trotz des ernsten Kontexts gibt es Momente der Heiterkeit, der Präsident schafft es, den jungen Menschen Hoffnung zu machen. Auf den „Slawa Ukraini“-Ruf einer Studentin, der Solidaritätsparole in Kriegszeiten, antwortet ein kleiner Chor mit „Heroyam Slawa“: den Helden Ruhm.

Mag die Heldenbeschwörung auf alle, die nie von Krieg betroffen waren, auch befremdlich wirken: Die Stimmen und Berichte aus der Ukraine, die an diesem Nachmittag gehört werden, verdeutlichen die akute Notwendigkeit von Botschaften, die mobilisieren und Mut machen.

Nachdem sich Selenskyj verabschiedet hat, tauschen sich viele Teilnehmer:innen weiter untereinander aus. Schließlich hatte nicht alle das Glück, mit ihrem Anliegen ans Mikrofon treten zu können. Die Eindrücke des Austauschs wirken nach.

„Ich fand es sehr bewegend“, sagt die 25 Jahre alte Yuliya Maltseva aus Saporischschja, die eine traditionelle ukrainische Bluse, die Vyshyvanka, trägt. Die Sozialwissenschaftsstudentin von der HU kam lange vor dem Krieg mit ihren Eltern nach Deutschland. Die Identifikation mit ihrer Heimat sei in diesen schwierigen Zeiten sehr wichtig, erzählt sie: „Bei Selenskyjs Rede zu Neujahr haben wir alle geweint.“

Ihre Frage an ihn konnte sie heute leider nicht stellen, und zwar zur Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft. Sie selbst wolle ihre ukrainische nicht abgeben, eine deutsche hätte sie aber wegen der vielen Vorteile auch gern.

Insgesamt hätte die Studentin noch mehr Publikum in der HU erwartet. Der Saal war gut gefüllt, einige Plätze aber noch frei. Sie spüre aber in der Regel viel Unterstützung unter Studierenden, auch allgemein reagierten die Deutschen mittlerweile positiver auf ihre Herkunft, erzählt sie. Vor Kriegsausbruch wären ihr, gerade als Frau, negative Klischeevorstellungen vom Osten noch stärker begegnet.

Einmal allerdings sei sie von einer Studi-Gruppe für ihren Ukrainebutton am Rucksack angepöbelt worden: „Sie riefen etwas von Aggression durch die Nato und waren dabei sehr unangenehm, sodass ich zur Security gegangen bin.“ Es sei schade, dass aktuell viele Linke so anfällig für die russische Propaganda seien. Dabei nehme sie oft „eine gewisse Selbstgerechtigkeit“ wahr. Sie selbst sei als Feministin auch in solchen Kreisen unterwegs und verstehe gewisse Konflikte: „Aber heute müssen wir alte Überzeugungen überprüfen und manches neu bewerten.“

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