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Das Eis auf dem Belvedere-Gletscher in Italien schmilzt. Im Hintergrund ragt das Mont-Blanc-Massiv auf.

© Jean-Baptiste Bosson, Asters-CEN74

Nach den Gletschern: Neue Lebensräume der Größe Finnlands könnten entstehen

Bis 2100 droht die Hälfte der Gletscherflächen zu verschwinden, Mitteleuropa ist besonders betroffen. Doch auf den entstehenden, eisfreien Flächen könnten neue Arten eine Heimat finden.

Von Walter Willems, dpa

Die global schrumpfenden Gletscher zählen einer Studie zufolge zu den am schnellsten schwindenden Ökosystemen der Erde. Bis zum Ende des Jahrhunderts drohen die weltweit 210.000 Gletscher etwa die Hälfte ihrer derzeitigen Fläche von etwa 665.000 Quadratkilometern zu verlieren, falls die Treibhausgas-Emissionen hoch bleiben. In diesem Fall entstünden eisfreie Naturräume von etwa der Fläche Finnlands (339.000 Quadratkilometer), schreibt ein Forschungsteam aus Frankreich und der Schweiz im Fachjournal „Nature“.

Bei geringeren Emissionen würden die Gletscher demnach bis 2100 etwa 22 Prozent ihrer Fläche verlieren - das entspräche der Größe von Nepal oder 149.000 Quadratkilometern. Die gewaltigen Eisschilde von Grönland und der Antarktis, die etwa 96 Prozent der weltweit permanent vereisten Flächen stellen, lässt die Studie allerdings außen vor, da dort andere Prozesse am Werk seien.

Erste globale Bestandsaufnahme zum Gletscherschwund

Die Vereinten Nationen haben 2025 zum internationalen Jahr der Erhaltung der Gletscher ausgerufen. Nun stellt die Gruppe um Jean-Baptiste Bosson vom Conservatory of Natural Areas of Haute-Savoie in Annecy die nach eigenen Angaben erste globale Bestandsaufnahme zum Gletscherschwund vor.

Das Mer de Glace ist der größte Gletscher Frankreichs und der Mont-Blanc-Gruppe.

© Jean-Baptiste Bosson, Asters-CEN74

Der derzeitige Rückgang der Eisflächen birgt vielerorts Risiken - so etwa hinsichtlich der Wasserversorgung, der Hangstabilität oder in Form von Flutwellen durch die stark anschwellenden Gletscherseen. Doch in der Studie konzentrierte sich das Team auf einerseits verschwindende und andererseits neu entstehende Naturräume.

Mitteleuropa besonders betroffen

Für verschiedene Klimaszenarien modellierten die Forscher die Folgen des Gletscherschwunds für mehrere Weltregionen unter zwei Klimaszenarien. Bei weiterhin hohen Emissionen - dem Szenario RCP8.5 - werden Gletscher am stärksten in den Gebirgen nahe der mittleren Breiten und in Äquatornähe schrumpfen: In Europa, Asien und den Anden dürften dann im Jahr 2100 nur noch 5 bis 20 Prozent der derzeitigen Flächen verbleiben. Ebenfalls stark schwinden dürften Gletscher unter anderem in Alaska und an der Peripherie Grönlands.

55
Prozent ihres Volumens dürften Gletscher in Mitteleuropa selbst unter einer optimistischen Annahme verlieren.

In Mitteleuropa dürften die relativ kleinen Gletscher selbst unter einer optimistischen Annahme - dem Szenario RCP2.6 - mindestens 55 Prozent ihres Volumens verlieren. Weltweit behalten die Gletscher je nach Szenario bis 2100 zwischen 54 und 79 Prozent ihres derzeitigen Volumens.

Nach der Gletscherschmelze bilden sich Seen, etwa nahe dem Bionnassay-Gletscher an der französisch-italienischen Grenze.

© Jean-Baptiste Bosson, Asters-CEN74

Das Verschwinden von Gletschern bedroht die wenigen auf diese Lebensräume spezialisierten Organismen. Als Beispiele nennen die Forscher etwa die patagonische Steinfliege Andiperla willinki, den in Tibet lebenden Ringelwurm Sinenchytraeus glacialis oder die in den Alpen lebende Gletscherbachzuckmücke Diamesa steinboecki.

Gletscherschwund schafft neue Lebensräume

Stattdessen dürften auf den frei werdenden Flächen je nach Temperatur, Niederschlag und Hangneigung neue Arten eine Heimat finden - darunter mitunter Pflanzen und Tiere, die wegen der Erderwärmung in kühlere Lebensräume ausweichen müssen. Zu diesen neuen Naturräumen zählt das Forschungsteam sowohl terrestrische Gebiete als auch Süßwasserökosysteme sowie Meeresareale. Letztere entstehen beim Abschmelzen jener Gletscher, die ins Meer münden - etwa in den Außenbereichen der Antarktis oder in der russischen Arktis.

Erste Blumen sprießen nach dem Gletscherrückgang am Mont Blanc.

© Jean-Baptiste Bosson, Asters-CEN74

Generell plädiert das Team dafür, Gletschergebiete stärker zu schützen. Demnach liegen derzeit nur 30 Prozent der Gletscherflächen in Schutzgebieten, weitere 17 Prozent unterliegen dem Antarktis-Vertrag, der etwa Bergbau-Aktivitäten untersagt. Als Vorbild nennen die Autoren das von Frankreich eingerichtete Schutzgebiet am Mont Blanc und ähnliche gesetzliche Regelungen in Chile und Argentinien.

In einem „Nature“-Kommentar betont Nicolas Lecomte von der kanadischen Universität Moncton, dass sich das vollständige Ausmaß der Entgletscherung erst allmählich zeige. „Es ist an der Zeit, die ökologischen Folgen der weltweiten Gletscherrückgänge zu ermitteln“, schreibt der Biologe. „Die Analyse von Bosson und Kollegen ist der erste Schritt hin zu einem vollen Verständnis der Verlagerung von Ökosystemen, die mit der globalen Entgletscherung einhergehen.“ Im nächsten Schritt müsse man jene noch wesentlich größeren Probleme erfassen, die mit den Veränderungen der Grönländischen und Antarktischen Eisschilde verbunden seien.

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