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 Ukraineflagge auf dem Dach der Humboldt-Universität Berlin im März 2022.

© imago/Christian Spicker / IMAGO/Christian Spicker

Ukraineforschung in Kriegszeiten: Wissenschaft kann differenzieren

Lange wurden ukrainische Themen in der Osteuropa-Forschung vernachlässigt, erst der Krieg änderte dies. Das ist eine Chance, auch differenzierte politische Positionen wahrzunehmen.

Ein Kommentar von Eva Murašov

Russische und sowjetische Themen waren in der Osteuropa-Forschung lange dominant. Mit Fragestellungen, die sich auf inner-ukrainische Zusammenhänge fokussierten, habe man in den Politikwissenschaften kaum eine Chance gehabt, in einem großen Journal publiziert zu werden, bemerkte kürzlich die Ukraine-Expertin Gwendolyn Sasse von der Berliner Humboldt-Universität.

Auch in den Studiengängen fehlt vielerorts noch immer ein Ukrainebezug. Selbst an der Universität Freiburg, wo die Disziplin in Ost-, West- und Südslawistik eingeteilt ist, enthält keine der Richtungen die Ukraine. Und doch gab es – etwa in Berlin und im Umland – auch immer Forschende, die sich mit den „kleinen Sprachen“ und „Nischenthemen“ befassten, auch wenn dies als karrieretechnisch riskant galt.

Das Buch „Anarchy in the UKR“ des ukrainischen Autors Serhij Zhadan etwa stand schon um 2014 in einem Seminar am Osteuropa-Institut der Freien Universität auf der Lektüreliste. Und bei der HU-Professorin Susanne Frank konnte man im Wintersemester 2015 die „Imaginierte Ukraine“ an polnischen, russischen und ukrainischen Texten studieren.

Dass seit dem zweiten russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 nun Ukrainestudien in Deutschland gefördert werden, ob Projekte in Greifswald, an der Viadrina in Frankfurt (Oder) durch einen Ukrainistik-Bachelor an der Humboldt-Uni, ist erfreulich und gleichzeitig bitter: Warum erst jetzt? Und hat das auch Bestand, wenn die Welt eines Tages wieder anderes beschäftigt? Die Anthropologin Maria Mayerchyk zeigte sich auf einer Berliner Podiumsdiskussion zu Ukrainestudien in Kriegszeiten pessimistisch: Sie glaube nicht, dass die Ukrainebegeisterung des Westens nach dem Krieg anhalte.

Vom unreflektierten Eurozentrismus lösen

Umso wichtiger findet es die Feministin für die Wissensproduktion ihres Landes, sich langfristig von einem unreflektierten Eurozentrismus zu lösen. Auch über einen möglichen dritten Weg, jenseits der Ost- und West-Hegemonien, würde in der Ukraine nachgedacht, erfährt man in einem Artikel Mayerchyks aus dem Jahr 2021 über die Maidan-Revolution: und zwar von feministischen Kollektiven.

In Mayerchyks Artikel über die Proteste klingt auch deutliche Kritik am Nationalismus an, wobei betont werden muss, dass dies seit dem brutalen Angriffskrieg Russlands 2022 natürlich unter anderem Vorzeichen steht. Dass es auch unter Ukrainer:innen Stimmen gab und gibt, die den eigenen – zur aktuellen Kriegsmobilisierung unbestritten notwendigen – Nationalismus grundsätzlich kritisch betrachten, ist aber ein interessanter Einblick und wichtig für die Frage, wie sich das Land nach Kriegsende ausrichten möchte.

Solch nuancierte inner-ukrainischen Auseinandersetzungen und Vorbehalte will man allerdings nicht von Putin- oder Sahra Wagenknecht-Anhängern instrumentalisiert sehen. Daher kann nicht oft genug betont werden, was der Berliner Slawist Georg Witte zuletzt in der FAZ schrieb: „Wer jetzt den Waffenstillstand fordert, betreibt Russlands Geschäft und macht sich zu Putins nützlichem Idioten.“

In der deutschen Wissenschaft aber, zeigte sich jetzt in Berlin, ist auch Raum für weniger bekannte Stimmen wie jener von Maria Mayerchyk und für differenzierte innerukrainische Debatten. Das ist in Kriegs- wie in Friedenszeiten eine Bereicherung.

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