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Westlich der Stadt Tepehan trat die Verwerfung an die Oberfläche.

© imago/CTK Photo

Vor dem Erdbeben: Bewegungen des Bodens könnten Frühwarnung ermöglichen

Stunden vor einem schweren Beben bewegt sich die Erdkruste messbar, zeigen Analysen. Forschende suchen nach Möglichkeiten, dies für Frühwarnsysteme auszunutzen. 

Erdbeben sind tückisch, sie kommen scheinbar aus dem Nichts und richten verheerende Schäden an: bringen Häuser zum Einsturz, zerreißen Strom- und Gasleitungen, können Tsunami auslösen. Jedes zweite Todesopfer bei Naturkatastrophen seit 1980 kam infolge eines Erdbebens ums Leben und auch die wirtschaftlichen Schäden sind immens. Allein bei den jüngsten Starkbeben in der Türkei und Syrien im Februar starben fast 60.000 Menschen, die Schäden werden auf gut 90 Milliarden Euro geschätzt. Gelänge es, solche Ereignisse rechtzeitig vorherzusagen, könnten viele Menschenleben gerettet werden.

Seit Jahrzehnten suchen Geoforscher nach zuverlässigen Anzeichen für schwere Erdstöße, bislang ohne Erfolg. Neue Hoffnung weckt eine Studie von Quentin Bletery und Jean-Mathieu Nocquet von der Université Côte d’Azur. Sie untersuchten für 90 starken Beben (Magnitude 7,0 und größer), ob sich im Vorfeld die Erdkruste verformt hat. Dazu werteten sie GPS-Daten von rund 3000 Stationen jeweils für die letzten 48 Stunden vor dem Ereignis aus. Wie die Forscher im Fachmagazin „Science“ berichten, wurden sie bei mehr als der Hälfte der Starkbeben fündig.

Schwache Erschütterungen und auffällige Tiere

Gemäß der GPS-Daten begannen die Gesteinspakete beidseits der Verwerfung schon vor dem Ereignis sich aneinander vorbeizubewegen. Weil dies ohne große Erschütterungen erfolgt, nennen Fachleute das „aseismisch“. Laut Bletery und Nocquet beschleunigte sich die Bewegung in den letzten zwei Stunden vor dem Erdbeben.

„Unsere Beobachtung zeigt, dass Vorläufersignale für starke Erdbeben existieren“, folgern sie. Mit entsprechender Messtechnik sei es möglich, diese zu erfassen. Dies könnte für eine Frühwarnung nützlich sein, obgleich die beiden Forscher diese Option nicht eindeutig benennen – womöglich aus Vorsicht. Denn trotz hartnäckiger Suche ist bisher kein Vorbote bekannt, der zuverlässig verheerende Erdstöße ankündigt.

Weder das Verhalten von Tieren noch seismische Signale halten einer strengen wissenschaftlichen Überprüfung stand. Bei aufgeregten Tieren steckt oft ein „confirmation bias“ der Beobachter dahinter: Verhalten sich Tiere ungewöhnlich und es bebt anschließend, fällt das manchen Menschen auf, obwohl der Zusammenhang mutmaßlich zufällig ist.

Noch Wochen nach dem Beben in der Türkei und Syrien im Februar mussten Tote geborgen und Trümmer beseitigt werden.

© IMAGO/ZUMA Wire

Auch schwache Erschütterungen erwiesen sich als zu ungenau. Diese können einem Erdbeben vorausgehen, müssen aber nicht. Sie können auch einfach so auftreten, ohne dass Schlimmeres folgt. Selbst wenn es gelingt, seismische Vorboten als solche zu identifizieren, ist weiter unklar, wann das Hauptbeben folgt – in einigen Minuten, Stunden, Tagen oder Wochen? Das ist viel zu ungenau, um die Bevölkerung zu warnen.

Trügerische Vorboten

Ähnlich verhält es sich mit den Deformationen der Erdkruste. Aus Laborexperimenten wissen Geophysiker, dass dem großen Knall oft aseismische Bewegungen vorausgehen. Doch diese in der Natur sicher zu erkennen und von Bewegungen zu unterscheiden, die andere Ursachen haben, gelingt bisher nicht, schreibt Roland Bürgmann von der University of California in Berkeley in einem begleitenden „Science“-Kommentar.

Er rät dazu, den Gegencheck zu machen und zu analysieren, wie oft solche langsamen Bewegungen – die wie Vorboten daherkommen – beginnen, ohne dass ein großes Beben folgt. Zugleich sollte die seismische Aktivität, die „Minibeben“, im Vorfeld großer Erdbeben genauer untersucht und mit weiteren Messverfahren kombiniert werden, die beispielsweise Verformungsraten ermitteln. Hier könnte maschinelles Lernen nützlich sein, um in den komplexen Daten hilfreiche Zusammenhänge zu finden.

Erdbeben können die regionale Wirtschaft für Monate lahmlegen.

© IMAGO/ZUMA Wire

Marco Bohnhoff vom Deutschen Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ) sieht die Studie durchaus positiv. „Sie ist in jedem Fall ein Puzzlestein, könnte sich sogar als ein großer Wurf erweisen“, sagt er. Sofern sich die Befunde der Autoren an weiteren Datensätzen bestätigen. Bletery und Nocquet haben die aseismische Deformation nur vor Beben mit großer Magnitude nachgewiesen. „Mit einem dichten und empfindlichen Messnetz könnte das auch bei schwächeren Erdbeben gelingen“, sagt der Forscher. Weil solche Beben häufiger sind, erhielten die Fachleute mehr Daten und könnten Aussagen treffen, die statistisch besser abgesichert sind.

Auch er betont, dass neben der Verformung vor dem Beben zusätzlich die seismischen Signale in dieser Phase analysiert werden müssten. Bohnhoff und sein Team sind unter anderem an einem Messnetz im Großraum Istanbul beteiligt, das über entsprechende Geräte verfügt. Dort sind Seismometer in Bohrlöchern eingebaut, damit sie weniger durch Erschütterungen von der Oberfläche, etwa aus dem Verkehr, gestört werden.

Prognosebasiertes Frühwarnsystem

Eine Erdbebenvorhersage mit Zeitpunkt und Magnitude wird weiter eine Illusion bleiben. Der GFZ-Wissenschaftler ist aber zuversichtlich, dass es eines Tages zumindest ein „prognosebasiertes Frühwarnsystem“ geben könnte, das die Wahrscheinlichkeit für Erdstöße in einem bestimmten Zeitraum angeben kann. „Es macht einen großen Unterschied, ob das zehn Prozent sind oder 90“, sagt Bohnhoff.

Ab welchem Wert welche Maßnahme ergriffen wird, müssen dann die Behörden entscheiden. „Damit sind immer volkswirtschaftliche Schäden verbunden, wenn beispielsweise der Verkehr angehalten wird.“ Zu schweigen vom Gewöhnungseffekt, wenn dreimal gewarnt wird und nichts passiert. Wer nimmt eine vierte Warnung noch ernst?

Nicht zu vergessen sind auch jene Starkbeben aus dem Datensatz von Bletery und Nocquet, die nicht dem Deformationsmuster folgten. Sie legen nahe, dass es trotz bester geophysikalischer Methoden wohl immer Überraschungen geben wird.

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