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Politische Kultur: Wie aus Untertanen Demokraten wurden

Zwischen zivilem Engagement und Politikverdrossenheit: Eine kleine Geschichte der politischen Kultur in Deutschland.

1963 veröffentlichten die amerikanischen Politikwissenschaftler Gabriel Almond und Sidney Verba unter dem Titel "Civic Culture" ein bahnbrechendes Buch, in dem sie die subjektive Dimension politischer Systeme untersuchten. Die junge Bundesrepublik der 50er Jahre schnitt im Vergleich zu Großbritannien, Italien, den USA und Mexiko gar nicht gut ab. In den Einstellungen und Werten der Deutschen entdeckten sie noch viel von der Untertanenkultur, wenig Sinn für Pluralismus und politische Teilhabe, ausgeprägtes Misstrauen gegenüber Kontroversen und Parteiendemokratie.

Seitdem hat sich in den Sozialwissenschaften der Begriff "politische Kultur" durchgesetzt. Meist meint er politisch relevante Orientierungen des Denkens, Fühlens und Handelns in verschiedenen Gruppen, Regionen oder Ländern, oft symbolisch verfestigt - und historisch wandelbar. Darüber hinaus kann er sich auf Muster politischer Kommunikation beziehen oder auf die kulturellen Dimensionen des politischen Zusammenlebens im Gemeinwesen überhaupt. Der Begriff "politische Kultur" erlaubt es, Deutungen und Selbstdarstellungen, Erfahrungen und Handlungsmuster, Werte und symbolische Praktiken einzufangen und mit Wirtschaft, Sozialstruktur, Recht und Staat zu verknüpfen.

Als Almond und Verba 1980 erneut die politische Kultur im internationalen Vergleich untersuchten, fanden sie eine andere Bundesrepublik vor. Das Land präsentierte sich nun als Musterbeispiel eines demokratisch-liberalen, politisch-partizipatorischen Gemeinwesens. Andere Erforscher der deutschen politischen Kultur - etwa Kurt Sontheimer und Karl Rohe - blieben kritischer. Heute finden Meinungsumfragen erhebliche Demokratieskepsis und Teilnahmeabstinenz, man wird auch die antidemokratische Fremdenfeindlichkeit am rechtsextremen Rand nicht unterschätzen. Politikwissenschaftler arbeiten heraus, dass die Zahl der starken Vetogruppen in Deutschland besonders groß ist und sich dadurch die Handlungsfähigkeit des politischen Systems stark reduziert - gewissermaßen die andere Seite weit getriebener Demokratisierung und Gewaltenteilung. Aber nimmt man die letzten 60 Jahre als ganze in den Blick, dann erscheint die Bundesrepublik auch in ihrer vereinigungsbedingten Erweiterung als "geglückte Demokratie" (Edgar Wolfrum). Um diese Erfolgsgeschichte samt ihren inneren Grenzen zu begreifen, ist die Beschäftigung mit der politischen Kultur im Wandel ein vielversprechender Weg.

Kaum ein anderes Land hat im Rückblick auf seine Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so ungeheure Untaten zu verantworten wie Deutschland. Aber kein anderes Land hat sich dem - nach anfänglichem Zögern und gegen viele innere Widerstände - am Ende ehrlicher und vorbehaltloser gestellt als Deutschland. Die selbstkritische Erinnerung an den Nationalsozialismus, seine Ursachen und Folgen ist immer präsenter geworden: in der Geschichtswissenschaft und den Medien, durch Erinnerungsorte, Denkmäler und Gedenktage, in den Reden der Politik, aber auch in der Alltagskultur, den Biografien, der Kunst. Diese Erinnerung wurde zur einflussreichen Hintergrundfolie, auf der und gegen die die politische Kultur der Bundesrepublik Profil gewann. Dieses historische Wissen war als Kontext ebenfalls mächtig, als die Wiedervereinigung politisch, geistig und kulturell zu bewältigen war.

Im Hinblick auf die gemeinsame Vorgeschichte, den Nationalsozialismus, konnten sich Deutsche in West und Ost, bei allen tiefgreifenden Unterschieden, miteinander verständigen. Die Gewichtung von erster und zweiter deutscher Diktatur in der historischen Analyse, in den symbolischen Akten öffentlicher Erinnerung und im Umgang mit den Opfern ist ein bis heute nicht beendeter, strittiger Prozess, in dem Grundfragen der inneren Vereinigung schrittweise verhandelt werden.

Die jüngere Geschichte ist in der politischen Kultur der Bundesrepublik ungemein präsent, vor allem als Ressource, als Antrieb des Einsatzes für ein besseres Deutschland: die Geschichte der Bundesrepublik als gelungener, durch die globalen Bedingungen begünstigter Versuch, aus der Geschichte zu lernen. Mit ihrer betonten Verankerung in dieser Geschichte hängt überdies der vergleichsweise moralische Grundton der deutschen politischen Kultur zusammen, der sich beispielsweise im Hinblick auf Menschenrechte, Ablehnung von Gewalt, Umweltschutz, Atomkraft oder genmedizinische Forschung zeigt. Mit der angestrengten Erinnerung an deutsche Untaten und Leiden dürfte aber auch die verbreitete Neigung zu Verzagtheit und Risikoscheu, zu Ängstlichkeit und Zukunftspessimismus zusammenhängen, die die politische Kultur in Deutschland belastet.

Die politische Kultur der Deutschen steht seit je in Spannung zum Kapitalismus. Das zeigen die Programme der Linken, die Ressentiments auf der Rechten und die Ängste der Mitte. Ökonomisches Denken ist hierzulande für politische Bildung nicht zentral. Die vom kapitalistischen Wirtschaftswachstum regelmäßig verschärften sozialökonomischen Ungleichheiten werden bei uns rasch als Ungerechtigkeiten gedeutet. Doch nicht jede Ungleichheit ist ungerecht. Unsere gegenwärtige Armutsdebatte dreht sich nicht so sehr um unerfüllte Grundbedürfnisse als vielmehr um wachsende Unterschiede des Einkommens und der Lebenschancen. Sie ist in Wirklichkeit eine Ungleichheitsdebatte. Abhilfe wird von der nationalstaatlichen Politik erwartet. Die ist dadurch überfordert. Das Gefühl ist verbreitet und nicht unbegründet, dass die Logik guter, gerechter, menschenwürdiger Politik mit der Logik der Märkte und des Kapitalismus auf Kriegsfuß steht.

Andererseits zeigt die genaue Analyse, wie sehr die Akzeptanz der Demokratie seit den 50er Jahren durch den Anstieg des Wohlstands und die ihn erst ermöglichenden ökonomischen Wachstumserfolge befördert wurde, die ihrerseits nur durch die Dynamik kapitalistischen Wirtschaftens hervorgebracht werden konnten. Die politische Kultur der Republik hat wirtschaftliches Wachstum als Voraussetzung gehabt. Dass gegenwärtig Demokratieskepsis und Politikverdrossenheit bedrohlich wachsen und von der Erfahrung ausbleibender Einkommenssteigerungen genährt werden, weist darauf hin, dass dieser Zusammenhang immer noch besteht.

Das Verhältnis von Ökonomie und politischer Kultur ist also voll von ungelösten Widersprüchen. Sie dürften sich in Zukunft zuspitzen. Denn die globale Wirtschaftsentwicklung und zunehmende Konkurrenz können sehr wohl dazu führen, dass wir mittel- und langfristig lernen müssen, ohne Einkommenssteigerungen zu leben. Wie unsere politische Kultur damit zurechtkommen wird, muss sich erst noch herausstellen.

Der Autor ist Historiker an der Freien Universität und am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Zu seinem Thema erschien jetzt das neue WZB-Jahrbuch - Dieter Gosewinkel, Gunnar Folke Schuppert (Hg.): Politische Kultur im Wandel von Staatlichkeit. Edition Sigma, Berlin 2008. 402 S., 27,90 €. Vorgestellt und diskutiert wird das Jahrbuch am heutigen Mittwoch um 18 Uhr bei einer Diskussionsveranstaltung im WZB (Reichpietschufer 50, Mitte).

Jürgen Kocka

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