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Interaktion ist ein wichtiges Element im Unterricht an der ESBZ. Darüber hinaus gibt es in Vorbereitung auf das Leben außerhalb des Klassenzimmers Projekte wie „Verantwortung“ oder „Herausforderung“.

© Evangelische Schule Berlin-Zentrum, Fotograf: Frank Wölffing

„Die Erwachsenen müssen loslassen“: Was Berliner Schüler durch Engagement-Projekte lernen

An mehreren Berliner Schulen ist soziales und gesellschaftliches Engagement der Schüler schon fester Bestandteil des Unterrichts. Jetzt gibt es dafür ein neues Modellprojekt.

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Etwas machen, was man vorher noch nicht gemacht hat, dadurch andere Lebensbereiche im Kiez kennenlernen und Selbstbewusstsein aufbauen – für Christian Lüpke, Lehrer an der Max-Beckmann-Oberschule in Reinickendorf, sind dies einige wichtige Erfahrungen, die die Schüler:innen seiner achten Klasse während des Engagement-Projekts im letzten Schuljahr mitgenommen haben.

In einem Workshop lernten die Schüler:innen, wie man Seife herstellt, und verkauften ihre Erzeugnisse anschließend auf dem Nachhaltigkeitsmarkt. Der Erlös wurde gespendet. Klassenlehrer Lüpke war zwar immer dabei, aber die Schüler:innen machten fast alles selbst – von der Kommunikation mit den Partnern bis zum Verkauf am Stand.

„Es sollte eine neue Hürde sein, die sie nehmen mussten, die sie aber auch schaffen konnten“, berichtet er. Positiv fand er dabei, dass die Schüler:innen Fähigkeiten an sich entdecken konnten, die sie vorher vielleicht noch nicht kannten. Und: „Durch das Projekt haben sie ihren Blick auf ihre Mitmenschen in der Nachbarschaft erweitert. Ich denke, das ist ein wichtiger Schritt, um sich auch zukünftig für die Gesellschaft und seine Mitmenschen einzusetzen“, sagt Lüpke. Darüber hinaus hätten die Schüler:innen praktisch erfahren, wie ihnen das, was sie in der Schule lernen, nützlich sein könne.

Die Max-Beckmann-Oberschule ist eine von 16 Berliner Netzwerkschulen, an denen in Zusammenarbeit mit der bundesweit agierenden Stiftung Lernen durch Engagement (LdE) gemeinnützige Projekte entstehen und umgesetzt werden. Das LdE-Konzept des sogenannten „Service Learning“ soll gesellschaftliches Engagement von Schüler:innen mit fachlichem Lernen im Unterricht verbinden.

Jenny Stiebitz aus der Oskar Freiwilligenagentur in Lichtenberg ist eine von vier Schulbegleiter:innen für Projekte der Stiftung Lernen durch Engagement (LdE).

© Holger Gross/ Parität Berlin

In den Projekten sollen die Inhalte aus dem Lehrplan angewandt werden, und gleichzeitig soll durch lokale Kooperationspartner eine Vernetzung im Kiez entstehen. Die Stiftung bietet Grundlagenschulungen und Materialien für die Lehrkräfte und motiviert die Schulteams durch Preisverleihungen. Unterstützt werden die Berliner Schulen von insgesamt vier Schulbegleiter:innen.

Eine von ihnen ist Jenny Stiebitz aus dem Kompetenzzentrum der „Oskar Freiwilligenagentur“ in Lichtenberg. Für Lehrer:innen bedeute die Teilnahme an LdE auch, dass sie Neues dazulernen, sagt Stiebitz. „Manche Lehrer:innen haben noch keine Erfahrungen mit fächerübergreifendem Unterricht mit Projektcharakter“, sagt sie.

Für die Schüler:innen ist es eine großartige Gelegenheit, Eigenverantwortung zu übernehmen und Selbstwirksamkeit zu erfahren.

Jenny Stiebitz, Oskar Freiwilligenagentur Lichtenberg

In solchen Fällen bietet sie als Begleiterin Hilfe und Unterstützung an. „Für die Schüler:innen ist es eine großartige Gelegenheit, Eigenverantwortung zu übernehmen und Selbstwirksamkeit zu erfahren“, sagt Stiebitz. Sie weiß: „Die Erwachsenen müssen loslassen. Am besten laufen die Projekte, wenn man den Schüler:innen vertraut.“ Ihre Erfahrung sei, dass alle, die Lernen durch Engagement ausprobiert haben, damit weitermachen wollen.

Schulprojekte „Verantwortung“ oder „Herausforderung“

Vertrauen ist auch für Uli Marienfeld, kommissarischer Leiter der Evangelischen Schule Berlin-Zentrum (ESBZ), zentral bei der schulischen Erziehung junger Menschen. „Vertrauen lohnt sich immer“, sagt Marienfeld. „Der Satz ‚Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser‘ ist das Ende von allem. Ich glaube an die Fähigkeiten von Schüler:innen und Kolleg:innen.“ Seit fast 40 Jahren arbeitet Marienfeld als Lehrer. An der ESZB unterrichtet er die Fächer Mathematik, Religion und Sport – und leitet das Projekt „Verantwortung“, das für die siebten bis zehnten Klassen fest in den Lehrplan der Schule integriert ist.

Während einer Doppelstunde pro Woche engagieren sich die Schüler:innen in der Zivilgesellschaft. Vorgegeben ist dabei nur, dass ihr Engagement gebraucht wird, dass es wirklich Sinn macht. „Wir fragen die Schüler:innen zu Beginn des Schuljahres: Was würdest du gerne machen? Dann sprechen wir darüber, suchen gemeinsam nach einem Platz, helfen bei der Kontaktaufnahme.“

Unsere Schüler:innen lieben alle Formate, die nicht klassisch sind.

Uli Marienfeld, Lehrer in der ESBZ

Nach den Herbstferien bis etwa in den Mai geht es für die jungen Menschen in die Praxis. Zum Beispiel, erzählt Marienfeld, helfen die Schüler:innen im Tierheim oder bieten Handy-Kurse im Seniorenheim an. Wichtig sei auch die regelmäßige Reflexion, in der über die Erfolge und Misserfolge gesprochen werde, erzählt Marienfeld. Denn auch das Scheitern sei eine wichtige Erfahrung.

Das Projekt „Verantwortung“ wird laut Marienfeld begeistert angenommen. „Unsere Schüler:innen lieben alle Formate, die nicht klassisch sind“, berichtet er. Weitere Projekte sind etwa „Alle ins Ausland“ für die elften Klassen oder „Herausforderung“, in denen 13- bis 15-jährige Schüler:innen am Ende eines Schuljahrs mit nur 150 Euro für drei Wochen auf Reisen gehen – selbst organisiert und nur unterstützt von studentischen Begleitern.

„Verantwortung“ sei eingeführt worden, weil es „mit dem Leben zu tun hat“, sagt Marienfeld. „Schule ist nicht nur Vorbereitung auf das Leben, es ist Leben.“ Seiner Ansicht nach müsse man, wenn man über Zivilgesellschaft rede, das Konzept in beschränktem Rahmen auch auf die Schule übertragen und Schüler:innen zutrauen, dass sie Verantwortung übernehmen.

Die ESBZ ist eine öffentliche Schule in freier Trägerschaft der Evangelischen Schulstiftung in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) und gehört zu den erfolgreichsten deutschen Reformschulen. Dass praktisches Engagement nicht hinderlich für einen guten Schulabschluss ist, zeigt sich in dem regelmäßig überdurchschnittlich guten Abiturschnitt der ESBZ. „Die Schüler:innen machen bei uns das Abi sozusagen nebenbei“, sagt Uli Marienfeld.

Den höchstmöglichen Abschluss aus den Schüler:innen herauszuholen, sei nicht das Ziel. „Die Schüler:innen sind komplett unterschiedlich, das sind 662 Individuen bei uns. Lehrplan und Vorgaben sind gut, aber wir wollen individuell die Potenziale fördern, statt sie defizitär zu behandeln. Vor dem Zentralabitur darf Schule bunt sein – und für manche ist das Abitur auch nicht das Richtige.“

Mit Blick auf den beruflichen Werdegang gilt Engagement für junge Menschen als gute Möglichkeit, über den Tellerrand zu schauen und praktische Erfahrungen zu sammeln – und es macht sich gut im Lebenslauf. Wer sich freiwillig engagiert, zeigt, dass er bereit ist, Verantwortung für eine lebendige Zivilgesellschaft zu übernehmen.

Freiwilliges Engagement ist ein wesentliches Element von Demokratie. Unter dem Motto „Demokratie leben!“ werden bundesweit Projekte gefördert, in denen Jugendliche aktiv sind. In Berlin wird in sechs von zwölf Bezirken das junge bürgerschaftliche Engagement besonders gefördert – zum Beispiel mit dem Programm „Bring dich ein“ in Charlottenburg-Wilmersdorf oder den „OskarYoungStars“ in Lichtenberg.

Vielen Jugendlichen fehlt für ein Engagement die Zeit

Freiwillig ist das verpflichtende Engagement der Schüler:innen der ESBZ oder an den LdE-Netzwerkschulen zwar nicht. Dafür erhalten viele junge Menschen die Gelegenheit, von den Erfahrungen durch die begleiteten Projekte zu profitieren. Freiwilliges Engagement zusätzlich zu Unterricht und Hausaufgaben ist für viele Schüler:innen dagegen oft nicht denkbar.

Laut einer Sonderauswertung des „Vierten Freiwilligensurveys“ von 2017 ist für die 14- bis 17-Jährigen mangelnde Zeit der größte Hinderungsgrund, sich freiwillig zu engagieren – die größte Motivation dafür ist hingegen der Spaß bei der Tätigkeit.

Christian Lüpke wünscht sich mehr Möglichkeiten für Engagement-Projekte an der Schule – nicht nur für die Schüler:innen, sondern auch für sich als Lehrer: „Für mich persönlich ist es auch wichtig, dass wir uns als Schule öffnen und Kontakte zu Partnern im Kiez aufbauen, um gemeinsame Projekte durchzuführen. Denn auch Lehrer:innen macht es Spaß zu sehen, dass ihre Arbeit einen konkreten Widerhall hat und nicht im Zetteldschungel versiegt.“

Die Erfahrung könnten bald weitere Lehrkräfte machen. In dem im August veröffentlichten Fachbrief der Bildungsverwaltung sucht der Berliner Bildungsträger „Beteiligungsfüchse“ für ein Modellprojekt Berliner Schulen, die 2022/23 das Konzept „Lernen durch Engagement“ an ihrer Schule verankern wollen.

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