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Einwurf der Stimmzettel in eine Wahlurne in Berlin am 26. September 2021.

© imago images/Emmanuele Contini

Farce, Skandal, Tragödie: Die Wiederholungswahl führt zu politischem Stillstand – darunter leiden alle Berliner

Politiker sollen dafür sorgen, dass die Stadt funktioniert. Gelingt ihnen das nicht, müssen sie die richtigen Schlüsse ziehen. Das gilt auch für Andreas Geisel.

Ein Kommentar von Christian Latz

In ihrer Deutlichkeit sind die Worte des Berliner Verfassungsgerichts kaum zu übertreffen. Es stehe fest, „dass nicht nur einzelne, sondern tausende Wahlberechtigte am Wahltag in Berlin ihre Stimme nicht, nicht wirksam, nur unter unzumutbaren Bedingungen oder nicht unbeeinflusst abgeben konnten“. Die Berlin-Wahl muss darum vollständig wiederholt werden. Es ist der vorläufige Schlusspunkt eines Ereignisses, das gleichzeitig als Farce, Skandal und Tragödie bezeichnet werden kann.

Eine Farce sind all die Details, die das Gericht in den vergangenen Monaten ermittelt und in seiner Urteilsbegründung dargelegt hat. Sie zeugen von der mangelhaften Organisation der Wahl. Und der offenkundigen Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen, mit der die politisch Verantwortlichen in diesen Wahltag hineingegangen sind.

Der damalige Innensenator hat bislang keine politische Verantwortung übernommen

Allein das ist für sich genommen ein Skandal. Noch schwerer wiegt, dass insbesondere der damalige Innensenator Andreas Geisel (SPD) bislang keine politische Verantwortung für dieses Desaster übernommen hat.

Seit mehr als einem Jahr haben Medien über immer neue Details des Chaos am Wahltag berichtet. Spätestens seit der Anhörung des Landesverfassungsgerichts Ende September galt die Entscheidung, die das Verfassungsgericht am Mittwoch getroffen hat, als wahrscheinlich.

All das hat dazu beigetragen, dass sich viele über die Zeit bereits damit abgefunden haben. In berlintypischer Manier gewöhnt an den größtmöglichen Schadensfall. Aber damit ist es nicht getan.

Was passiert ist und durch die Entscheidung des Gerichts manifest wurde, ist ein beispielloses Versagen. Wann, wenn nicht jetzt ist für Geisel die Zeit, dafür auch politisch Verantwortung zu übernehmen und zurückzutreten?

In dieser Stadt, in der so vieles nicht vorangeht, wo Schulplätze fehlen, die Verkehrswende stockt, man ewig auf einen Termin beim Bürgeramt wartet, genau hier herrscht nun erneut Stillstand. 

Christian Latz

Offenbar scheint einigen nicht klar zu sein, was sonst die Folgen sind. Geschieht dieser Schritt nicht, bleibt bei den Bürgerinnen und Bürgern zwangsläufig der Eindruck hängen, man könne als Politiker ein demokratisches Grundrecht gegen die Wand fahren und doch keinen Schaden davontragen. Für die Wertschätzung der Demokratie in Berlin ist das wohl fast genauso schädlich, wie das fabrizierte Wahlchaos selbst. Und auch für Franziska Giffey und die Berliner SPD dürfte der hochgeschätzte Senator sonst zum Dauerproblem werden.

Das Verfassungsgericht ermöglicht nun die Chance auf eine neue, ohne Pannen abgehaltene Wahl. Dieser Schritt ist ein Ausdruck der funktionierenden Gewaltenteilung und in der bittersten Stunde zugleich ein Erfolg der Demokratie. Und doch einer mit einer bitteren Note. Rund 20.000 Wahlfehler haben die Richter zusammengetragen – bei 1,8 Millionen abgegebenen Stimmen.

Ein Schwebezustand, den sich Berlin kaum leisten kann

Die Fehlerzahl ist enorm und dennoch konnte die große Mehrheit der Bürger an der Wahl so teilnehmen, wie es eigentlich selbstverständlich sein sollte. Und das bei einer Wahlbeteiligung, die wegen der zeitgleichen Bundestagswahl so hoch war wie seit 30 Jahren nicht. Zur Wiederholungswahl im Februar dürften deutlich weniger Menschen gehen. Aus Frust oder weil es sie nicht interessiert. Was bedeutet das demokratietheoretisch für den Wert des Ergebnisses?

Auch deshalb bleibt der Berliner Wahltag 2021 eine Tragödie. In dieser Stadt, in der so vieles nicht vorangeht, wo Schulplätze fehlen, die Verkehrswende stockt, man ewig auf einen Termin beim Bürgeramt wartet, genau hier herrscht nun erneut Stillstand. Mindestens in den Monaten bis zur Wahl; sollte es neue Koalitionsverhandlungen geben wohl noch einige Zeit länger. Ein Schwebezustand, den sich Berlin kaum leisten kann. Und unter dem am Ende alle Berlinerinnen und Berliner leiden.

Als Hoffnung bleibt nur, dass die Berliner Politik aus diesem Desaster lernen muss. Verwaltungsaufgaben, und scheinen sie noch so selbstverständlich wie die Organisation einer Wahl, müssen ernst genommen werden. Es darf nicht länger reichen, nur darauf zu hoffen, der schlimmste Fall werde schon nicht eintreten. Auch müssen Politiker begreifen, was politische Verantwortung wirklich bedeutet.

Sie haben einerseits dafür zu sorgen, dass diese Stadt funktioniert. Gelingt ihnen das nicht, müssen sie die richtigen Schlüsse daraus ziehen. All das mag wahrlich selbstverständlich klingen: Schlimm genug, dass es das in Berlin offenbar nicht ist.

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