zum Hauptinhalt
Wie man dem Misstrauen in der Gesellschaft beikommen könnte.

© Gestaltung: tagesspiegel

Fürchtet euch nicht?: Wie man dem Misstrauen in der Gesellschaft beikommen könnte

Seit dem Hamas-Überfall auf Israel sind die Vorbehalte gegenüber Muslimen in Deutschland allgegenwärtig. Auch unter ihnen wächst Frust. Aber das könnte sich nutzen lassen.

Ein Zwischenruf von Ariane Bemmer

Was man praktisch tun könne, um Antisemitismus zu bekämpfen, fragt der Imam. Und wie gegen das wachsende Misstrauen angehen. Um ihn herum sitzen mehrere Männer, ein paar kleine Jungs und Jugendliche im Kreis auf dem Teppich, dessen Muster nach Mekka zeigt.

Eine Weile traut sich keiner so recht, dann sagt einer der Männer, dass sie auf die Menschen zugehen müssten, und erzählt von der Nachbarschaftshilfe, die er und seine Gemeinde leisten.

Es ist Samstag vergangener Woche, und in der Moschee der Ahmadiyya-Gemeinde in Berlin-Pankow hat Imam Scharjil Khalid auf Wunsch der Gläubigen einen Workshop zu Koran, Islam und Antisemitismus veranstaltet.

Seit dem 7. Oktober, dem Tag, an dem die Terrororganisation Hamas Israel überfallen hat und Anhänger des Netzwerks Samidoun das in Berlin-Neukölln mit Süßigkeitenverteilen feierten, ist das Verhältnis des Islam zu Judentum und Judenstaat ein Dauerthema.

Groß ist die Sorge, etwas zu überhören, zu übersehen

Was sich seither beobachten lässt, ist, dass das Misstrauen wächst. Auf allen Seiten. Statt „Fürchtet euch nicht“, wie in diesen Tagen an vielen Christuskrippen so oft gesungen werden dürfte, greift latente Panik um sich.

Groß ist die Bereitschaft, in Worten und Gesten etwas „Böses“ zu erkennen. Groß ist auch die Sorge, davon etwas zu überhören, zu überlesen. Der Schatten des 11. September, in dessen Folge aus Türken, Arabern, Pakistanis, Afghanen, Syrern „die Muslime“ wurden, ist so breit wie lange nicht mehr. Vorwürfe wie Terrorverharmlosung, Antisemitismus oder antimuslimischer Rassismus prägen die Debatten.

Die Mehrheitsgesellschaft artikuliert immer unverhohlener ihr Misstrauen den Muslimen gegenüber. Führende Politiker fordern pro-israelische Bekenntnisse ein. Die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter vom Forschungszentrum Globaler Islam erklärt deutsche Islamverbände pauschal zum Teil des Problems und empfiehlt der Politik, keine Gespräche mehr mit ihnen zu führen.

Umgekehrt werfen Muslime den Medien unausgewogene Berichterstattung vor und informieren sich anderswo. Die Formel vom „importierten Antisemitismus“ wird besonders bei in Deutschland geborenen Muslimen als ablehnend empfunden. Viele fühlen sich unfair abgestempelt.

Auch unter Muslimen ist das Misstrauen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber gewachsen. Das kann und sollte nicht so bleiben. Es zu ändern, ist aber schwer.

Dennoch: Sich damit zufrieden zu geben, dass Misstrauen vorherrsche, hält Isabell Thielmann, Forschungsgruppenleiterin am Freiburger Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, für keine Option, weil das die Gesellschaft als Ganzes schwäche.

Um Misstrauen abzubauen, seien die Einzelnen gefordert, sagt sie. Im Sinne der Vertrauensbildung müssten sie in Kontakt zu Mitgliedern der beargwöhnten Gruppen gehen, um die Stereotype und Vorurteile zu überprüfen. Denn je mehr Kontakt, desto weniger Vorurteile. Das ist längst belegt.

Je ähnlicher einer ist, desto besser findet man ihn. Ein Problem?

In Deutschland wird Kontaktaufnahme dadurch erschwert, dass sich die Gruppen, die sich argwöhnisch gegenüberstehen, sehr unterscheiden. Die Mehrheitsgesellschaft ist älter, christlich, im christlichen Kontext aufgewachsen oder atheistisch, Frauen und Männer halten sich die Waage.

Die Migranten, sofern muslimisch, sind dagegen seit einigen Jahren sehr jung und fast ausschließlich männlich. Für den Vertrauensvorschuss ein handfestes Problem.

Vertrauen ist der Kleber, der Gesellschaften zusammenhält.

Isabell Thielmann, Max-Planck-Institut

Denn laut Thielmann heftet man einer fremden Person umso mehr jene Eigenschaften an, die man auch sich selbst anheftet, je ähnlicher die Person einem ist. Ist jemand auf den ersten Blick ganz anders, falle einem das nicht automatisch ein, so Thielmann.

Trotzdem lohne es sich, die Arbeit zu machen, aufeinander zuzugehen, Vorurteile zu überprüfen. „Vertrauen ist der Kleber, der Gesellschaften zusammenhält“, sagt sie.

Aber man kann das alles auch anders sehen. Der Sozialanthropologe Florian Mühlfried beispielsweise hält die Abwertung des Misstrauens nicht für gerechtfertigt – und ebenso wenig die dauernden Rufe nach „vertrauensbildenden Maßnahmen“.

Misstrauen werde reduziert „auf das, was ist, wenn kein Vertrauen herrscht – also auf Abwesenheit von etwas und deshalb als Problem“, schreibt er 2019 in seinem Essay „Misstrauen. Vom Wert eines Unwerts“. Das sei ein Missverständnis.

Nicht nur ohne Vertrauen, auch ohne Misstrauen kann Demokratie nicht bestehen.

Florian Mühlfried, Sozialanthropologe

Auch Gewaltenteilung, Pressefreiheit und in den USA die „checks and balances“ dienten dazu, „den Staat misstrauisch zu beäugen“. „Misstrauen schließt zivilgesellschaftliches Engagement nicht aus, es geht diesem meist voraus. Nicht nur ohne Vertrauen, auch ohne Misstrauen kann Demokratie nicht bestehen“, heißt es bei Mühlfried.

Das nützliche Misstrauen kommt so aber vor allem im Kontakt von Mensch und Staat zum Tragen. Doch wie sieht es aus, wenn sich das Misstrauen zwischen die Menschen selbst drängt?

Geht es um blindes Misstrauen oder reflexives?

Hier macht Mühlfried einen Unterschied zwischen „blindem Misstrauen“ und „reflexivem Misstrauen“. Ersteres nehme nur noch Signale wahr, die ins Konzept passten, und stelle sich selbst und seine Annahmen nicht mehr infrage. Zweiteres dagegen sei zwar in der Regel „durch Erfahrungen gesättigt“, aber dennoch bereit, auch positive Signale zu empfangen und Annahmen womöglich zu revidieren.

Damit lasse sich arbeiten. „Ein misstrauensbasierter Dialog ist möglich“, sagt Mühlfried am Telefon. Nicht zuletzt der Dialog Europas mit China zeige das. Er rät auch für den innergesellschaftlichen Annäherungsprozess dazu, das Misstrauen umzuwerten. „Man sollte sich seines Misstrauens nicht schämen, sondern es artikulieren.“

Nicht so ausdrücklich, aber im Sinn ähnlich hat es der Berliner Imam Khalid gehalten und ist mit den Workshop-Teilnehmern, „Wir sind alle Deutschland“-Plakaten und -Flyern noch zum Brandenburger Tor gefahren. „Gehen Sie bitte auf die anderen zu“, hatte Khalid ihnen auf den Weg gegeben. „Stellen Sie selbst die Fragen, die die anderen sich vielleicht nicht zu fragen trauen.“

Damit hat der Imam ganz nebenbei den Kern erwischt. Sich trauen, sich nicht trauen, vertrauen, misstrauen. Darum geht es. Und wenn es auf der einen Seite hakt, ist die andere gefragt. Das sieht klein aus und unbedeutend. Aber so bewegt man sich langsam aufeinander zu. Der aktuell gebeutelten Gesellschaft wäre zu wünschen, dass sich viele Menschen finden, die sich das zutrauen wollten. Denn nur so ist Staat zu machen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false