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Michel Würthle (1943-2023) im Jahr 2007 in seinem Lokal vor dem berühmten Kippenberger-Gemälde, das die Bar selbst darstellt.

© IMAGO/Jannis Chavakis

Zum Tod von Michel Würthle: Das Geheimnis der Berliner „Paris Bar“

Michel Würthle, der ehemalige Betreiber der „Paris Bar“ in Berlin-Charlottenburg, ist tot. Unzählige Stars waren in seinem Lokal schon zu Gast.

| Update:

Der Gründer eines der bekanntesten Restaurants Deutschlands ist tot. Michel Würthle ist in der Nacht zu Donnerstag im Alter von 79 Jahren verstorben, wie sein Freund und Anwalt Robert Unger mitteilte. Lesen Sie hier noch einmal einen Text von Juni 2022 über Würthle und die legendäre „Paris Bar“:

Um unsterblich zu werden, wären die sechs Bände im Schuber, die Erinnerungen mit Zeichnungen, Speisekarten und Fotos, erschienen im Steidl-Verlag, nicht nötig gewesen. Unsterblich ist Michel Würthle ja schon mit der Paris Bar geworden. Die hat er „erfunden“, wie man so sagt, 1979 war das. Einige vermuten, er habe damit die in West-Berlin bis dahin nicht existierende „Gesellschaft“ gleich miterfunden.

„Es ist schwierig, jemandem von der Paris Bar zu erzählen, der nichts von ihr weiß“, schreibt Michel Würthle in einem dieser Bände. Und in diesem Satz ist schon alles drin: das Ding mit den Insidern, die Exklusivität. Die Liebe zum Paradox. Und die Tatsache, dass man sich die Teilhabe erst verdienen muss. Weil nämlich auch beim Ausgehen von nichts nichts kommt.

Michel Würthle, der alles über die Paris Bar weiß, weil er sie gegründet und unter Einsatz seines Lebens jahrzehntelang geführt hat, öffnet jetzt die Tür zu einer Wohnung, die eine nahtlose Verlängerung seiner Bar sein könnte, so voller Kunst steckt sie. Voller gewienerter Lederschuhe, Pflanzen und einem Kater. Würthle ist selbst Künstler, Zeichner.

Auch eine Gaststätte kann ein Kunstwerk sein

Und in seinem speziellen Fall muss man davon ausgehen, dass auch eine Gaststätte ein Kunstwerk sein kann. Eine soziale Skulptur, eine Performance. Ein Werk, das sich am Ende der Nacht selbst zerstört, aber allabendlich aufs Neue entsteht und sich über die Jahre zu einem Lebenswerk addiert. Würthle bestimmte, wie das zu geschehen hatte. Er war der Dompteur dieser Abende. Würthle, Liebhaber deftiger Eintöpfe und Ausdrücke und mit einer Vorliebe für Kalauer, holt aus der Küche einen Kaffee und dann weit aus.

Denn natürlich ist es unmöglich, in Berlin zu leben und von der Paris Bar nichts zu wissen, nicht wenigstens flüchtig von ihrem Prestige gestreift worden zu sein: von der Paris Bar in Berlin Charlottenburg in der Kantstraße. Wie außergewöhnlich der Beitrag ist, den der Österreicher Würthle mit der Übernahme des Restaurants für die Stadt Berlin leistete, zeigt sich schon darin, dass hier jemand etwas neu erfinden konnte, was doch als das zweitälteste Gewerbe der Welt gilt. Daraus wurde ein Ort, an dem die Gesellschaft sich traf, wobei heute keiner mehr sagen kann, ob die Bar die Gesellschaft oder die Gesellschaft die Bar ermöglicht hat.

Der Künstler Martin Kippenberger durfte sein Essen in Gemälden bezahlen. Die komplette Besatzung aller Filmfestspiele inklusive der internationalen Stars kam hier zusammen. An Würthles Tischen saßen Jean-Luc Godard, Billy Wilder, Markus Lüpertz.

Der Wirt und Iris Berben 1999 in der Paris Bar
Der Wirt und Iris Berben 1999 in der Paris Bar

© adolph press HERCHER

Wenn die Paris Bar eine Institution ist, ist Würthle deren Instanz. Er entschied, wem sich die Tür öffnete und wer einen Tisch bekam, wenn zu den Filmfestspielen der Laden zum Bersten voll war. Mittlerweile ist er 79 Jahre alt, in seiner Wohnung das Sediment der Jahre, Kunst ist überall, Tische, auf denen er Bücher und Papiere ablegen kann, ein Schuhregal, Schränke mit seinen Arbeiten, alles in dem Haus, in dem er zuerst mit seinem Schriftstellerfreund Oswald Wiener und dessen Frau Ingrid das „Exil“ im Erdgeschoss betrieb.

Ein Künstler ist man mit allem, was man ist. Man arbeitet nicht „als“ Künstler. Mit einem Wirt, wie Würthle ihn versteht, verhält es sich genauso. Er arbeitete sich an der Aufgabe ab, die er sich selbst gestellt hatte: in Berlin ein relevantes Lokal zu führen. In das später Jack Nicholson, Damien Hirst und Gina Lollobrigida einkehren würden.

Im „Hawelka“ schickte man ihn heim - er solle etwas Anständiges anziehen

Würthle hat in Wien Kunst studiert, aber dann fing er an, auszugehen. Und einzukehren. Er merkte schnell: Ihn reizen Orte, die man erobern muss. Die ihre Gäste erziehen. Orte wie damals das Nachtlokal „La Coupole“ in Paris, oder heute noch die Kronenhalle in Zürich. Orte, die einem etwas abverlangen, den Sitzplatz muss man sich verdienen. Und was für eine Ausbildung es war, in Wien, Paris und Rom auszugehen und in den Lokalen zu arbeiten!

Es wäre wohl kaum alles so gekommen, hätte er nicht mit 15 Jahren etwa das „Hawelka“, Betonung auf der ersten Silbe, in Wien entdeckt. Es war die Zeit, als eine einzige Schale großer Brauner, wie die Österreicher einen Kaffee nennen, ohne Murren mit acht Glas Wasser serviert wurden. Trotzdem: „Das war nicht leicht einzunehmen für Jugendliche.“ Genauso wie die Loos-Bar in Wien, die mondäne und hochberühmte, winzige Bar von Adolf Loos, „da musste man schon etwas unternehmen, dass man dort hineinkam.“ Im Hawelka hat ihn einmal jemand nach Hause geschickt, er solle sich erst einmal etwas Anständiges anziehen. Würthle hat diese Lektion in Weltläufigkeit dankbar angenommen.

In Paris hat er gelernt, wie man mit Einsamkeit umgeht, jeder Jugendliche müsse das lernen. Und: „Paris ist eine gute Stadt, um zu üben, wenn einem eine Tür verschlossen bleibt.“ Paris hatte diese sagenhaften Nachtlokale, in die niemand hineinkam, „außer: dann doch“. Würthle lacht, als er sich an Regine erinnert, „eine hübsche Provinzlerin“, die in der Großstadt Furore machte mit ihrem Nachtlokal. Die habe ihm die Tür geöffnet: Was wollen Sie hier? – Er sagte: „Schöne Frauen bewundern, und die stehen hier ja schon an der Tür.“ Da durfte er hinein und sich setzen mit einem Scotch, der dann noch „auf diese französische Art, die mir so auf den Senkel gegangen ist, mit zwei, drei Eiswürfeln verlängert wurde“. Diesen Teil hasste er: „Mit spitzem Mündchen musste man dann nippen!“

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So sammelte Würthle überall Erfahrungen. Runterkippen hat er erst in Berlin gelernt. Er sah Leute, die sechs große Biere tranken, was er sich nie hatte vorstellen können. Er fand Gefallen am Berlinerischen, Berlin kitzelte ihn auf eine Art, wie das in Bonn und Köln nicht passiert war. Und so war Würthle keineswegs auf der Suche nach Grandezza in der Stadt, hat sie aber ausgerechnet in der damals tristen Kantstraße selbst hergestellt.

Es hat ihn nicht interessiert, dass in Berlin eine Zeit lang „jeder kleine Nasenbohrer schon der perfekte Maoist war“. Auch „die penetranten Post-Baaders“ konnten ihm gestohlen bleiben. Er wollte Eleganz. Haltung. Kunst. Geist.

Die Haltung macht den Unterschied. Das gilt für Wirt und Gäste
Die Haltung macht den Unterschied. Das gilt für Wirt und Gäste

© ullstein bild

Erst eröffneten der Schriftsteller Oswald Wiener und er in Kreuzberg das „Exil“, 1979 übernahm er die Paris Bar. „Nur in Berlin sind wir auf die Idee gekommen, überhaupt ein Lokal zu machen. Das wäre uns in einem Paris der 60er, 70er Jahre nicht eingefallen.“ Denn man hätte schon mit Napoleon verwandt sein müssen, um eine Genehmigung zu bekommen. In Berlin aber musste man nur einen Erste-Hilfe-Kurs machen „und nachweisen, dass man keinen Tripper hatte“. Die beiden amüsierten sich noch über eine mehrseitige preußische Hackfleischverordnung und legten dann los.

Bloß keine Politiker oder Ökonomen!

Michel Würthle, Erfinder der Paris Bar

„Die Absicht war, ein Lokal zu schaffen, das – zumindest in der europäischen Welt, die ich kenne – eine Rolle spielt.“ Neben jenen berühmten Orten in Wien, Rom und Paris. Einen Ort, an den „man“ geht. Das konnte nur gelingen mit der richtigen Mischung der Gäste. Einige interessante Menschen habe es gegeben im Berlin der 70er, 80er, Künstler, auch einzelne Schauspieler, die kamen schnell. Bloß keine Politiker oder Ökonomen.

„Das Intellektuelle hat der Oswald erledigt“, sagt Würthle. „Der war ja Schriftsteller. Ich habe Chuzpe und Schnelligkeit geliefert – die reine Oberfläche.“ Schnelligkeit sei notwendig an so einem Ort. Es half auch, keinen Autoritätsglauben zu haben.

Typisch die Begegnung mit dem Maler Martin Kippenberger. Innerhalb einer halben Stunde sei klar gewesen, „ob man sich anfällt, anbellt oder beschnuppert“. Martin Kippenberger wurde bekanntlich einer seiner echten, guten Freunde in Berlin, die später den Ruf der Paris Bar ausmachten.

„Reis mit Scheiß“ - „Zum halben Preis!“

Es ist oft die Szene beschrieben worden, wie die beiden zum ersten Mal aufeinandertrafen. Kippenberger „im mir bis dahin unbekannten Ruhrpott-Dialekt“. Das war noch im Exil, dem Lokal, das Würthle vor der Paris Bar mit Oswald Wiener am Landwehrkanal betrieb. „Was gibt’s?“, fragte Kippenberger. „Reis mit Scheiß“, kalauerte Würthle. „Zum halben Preis“, antwortete Kippenberger. Der Ton war gesetzt, ganz nach Würthles Geschmack: eine kleine Rangelei, ein kleines Kräftemessen. Eine kleine Prüfung, aus welchem Holz der andere geschnitzt ist.

Ganz früh etwa kam der damals „noch nicht regierende Friseur Berlins“, Udo Walz ins Lokal. Mit drei Fotomodellen, die bei dem ganzen Champagner schnell zu kichern anfingen. „Nun ist ein nettes Lieselotte-Pulver-Kichern stets erlaubt“, findet Würthle. Aber hier sagte er: „Ihr sollt’s nicht kichern, ihr Hühner!“ Auch Udo wurde daraufhin schnell zum guten Freund.

Otto Sander, „Pilaster“ des Lokals
Otto Sander, „Pilaster“ des Lokals

© picture-alliance / SCHROE'WIG/CS

Der Ruf der Bar lastete auf einigen dieser Pfeiler oder „Pilaster“, wie Würthle Udo Walz oder den Schauspieler Otto Sander nennt. Sie waren ständig da. „Die funktionierten wie eine Lokomotive“, hinter ihnen her kam immer ein Zug. Trotzdem habe er ununterbrochen bekannte Menschen nicht erkannt.

„Wir haben ja nicht alles gewusst“, sagt er. „Aber ich habe schnell begriffen.“ Auf die Details kam es an. Im Rom seiner Jugend etwa habe er verstanden, dass man sich das Paar Socken ins Revers steckt - „und barfuß in die geschissenen Treter“. Schon hat einer Stil.

Die gebügelte Antithese zu West-Berlin

Ohnehin gehört der Stil dazu, denn was sei das Leben anderes als eine Behauptung? „Man war schon zufrieden mit einem einzigen taillierten weißen Hemd.“ Da habe man sich sofort nicht mehr nachlässig gefühlt. Schon stand sie, die gebügelte Antithese zum damaligen West-Berlin!

Nun hatte Würthle das Glück, einer jener Männer zu sein, die in jeder Kleidung gut aussehen. Es gibt würdevolle Fotos von ihm im Bademantel, das muss einer erst einmal schaffen. Er hat, den New Yorker Schriftsteller und Dandy Tom Wolfe zitierend, die Leute im weißen Anzug willkommen geheißen. Der Mensch gib sich selbst eine Form. Das ist seine Freiheit.

Es ist nicht gut, nur zu stehen und zu saufen und Soleier zu essen.

Michel Würthle, Erfinder der Paris Bar

Michel Würthle steckt jetzt in seiner Wohnung in Strick, an den Beinen eine weiche, graue Hose, die man an anderen Menschen eine Jogginghose nennen würde, die ihm aber natürlich nichts anhaben kann. Durch die geöffnete Balkontür quellen die aufdringlichen Geräusche Kreuzbergs. Wichtig war auch, sagt Würthle, dass gegessen wurde, und zwar französisch. Essen musste sein, und zwar sehr gut. „Es ist nicht gut, nur zu stehen und zu saufen und Soleier zu essen.“ Das hält keiner durch. Und so mussten Gratin Dauphinois, Austern, Filetspitzen und Bohnen her.

Wie abenteuerlich, skurril und lustig Berlin damals war, „ich wollte in keiner anderen Stadt sein, auch nicht im damals so begehrten Manhattan“. Nein, sagt Würthle, „hier war es gut, da war alles möglich. Es war gar nichts und deswegen war es großartig.“ Es gab Gesetze, es wurden Augen zugedrückt, niemand musste zum Wehrdienst, „es war alles da“.

Berlin riecht nach Meer. Und was machten die ganzen Pinien rund um die Stadt?

Würthle erschien das magisch nach Paris. Die breiten Straßen ohne Autos. „Und ich habe komischerweise immer Meeresluft gerochen.“ Gefragt hat er: Da weht doch ein Lüftel? Zwischen dem Kohlengeruch, da ist doch so etwas Frisches, ja, liegt Berlin denn so nah am Meer? Und was machten diese ganzen Pinien rund um Berlin? Bis er merkte, dass das gar keine Pinien waren, sondern bloß Kiefern, hatte sich die köstliche Illusion vom Süden längst verfestigt.

Könnte auch im Süden liegen, so lauschig wirkt die Kantstraße hier
Könnte auch im Süden liegen, so lauschig wirkt die Kantstraße hier

© imago stock&people

Würthle behauptet, niemand habe absehen können, wie unglaublich sich sein Lokal, das Ganze überhaupt, entwickelte. Aber das stimmt natürlich nicht. Er hatte glasklare Vorstellungen davon, wie sein Lokal sein sollte, vom genauen Grad der Schäbigkeit bis hin zur Dekoration. Von der Beiläufigkeit bis hin dazu, welche Leute er dort sehen wollte und welche eben nicht. Von der Kunst an den Wänden, die ausgewählte Künstler als Bezahlung dalassen konnten.

Einmal, es war der Deutsche Filmpreis, die Bude proppevoll, steht vor der Tür ein Herr im Trenchcoat. „J’ai faim. J’ai soif.“ Hunger hat er, und Durst! „Aber natürlich!“, ruft Würthle begeistert von dem wunderbaren Existenzialismus des Regisseurs Jean Rouch, „kommen Sie rein!“ Eine wichtige Frage war, ab wie viel Uhr der erste Alkohol zu vertreten ist. Denn man musste es schaffen, im eigenen Lokal wenig zu trinken. Die Gäste durften hier fast alles, aber für das Personal galt das nicht. „Die Grenze war, dass man vor elf keine Rauschmittel zu sich genommen hat. Danach war man mit sich großzügiger.“ Doch niemals durfte man torkeln. Man musste Haltung bewahren „und darstellen können, dass man den Likör halten kann“.

Ein Exzess ist jederzeit möglich, aber nicht durchhaltbar.

Michel Würthle, Erfinder der Paris Bar

Wenn andere Lokale zu später Stunde kurz vorm Schließen waren, ging es in der Paris Bar erst richtig los. „Da war der Moment gegeben, wo man tatsächlich fühlte, dass man geistreich wird, wenn man sich besäuft.“ Danach sei man natürlich süchtig geworden. Man möchte diesen Zustand verlängern. Doch weil das nicht möglich sei, habe man das dann gerne umgelenkt in einen Exzess. So entstanden sie, die berühmten Nächte in der Paris Bar.

In der Paris Bar konnte man auch Nackedeis treffen
In der Paris Bar konnte man auch Nackedeis treffen

© adolph press HERCHER

Ein Exzess ist jederzeit möglich, „aber nicht durchhaltbar“, sagt Würthle. - Aber wird der nicht immer bewundert?

„Oh ja“, sagt er, „auch von mir.“ Er werde von jeder Bohème bewundert. „Erst mal heißt es: gib ihm! Der hohe Preis ist erst später zu entrichten.“ Und so sei der Exzess auch nicht die Lösung des Ganzen. „Ein Lokal ist eine wahnsinnige Anstrengung“, sagt Würthle. Währenddessen habe er das allerdings nie so empfunden, als er nächtelang um die Tische eilte. Der Lohn: Als man in West-Berlin fragte: Wohin?, war die Antwort fast zwangsläufig: In die Paris Bar. Wo alles möglich war. Wo Unerwartetes jederzeit passieren konnte.

„Komm du mir nach Hause, du Fotze“, rief Jil Sander - Der Wirt spendierte eine Flasche

In Erinnerung ist Würthle heute, der Tage und Nächte dort verbracht hat, „eine Ballung von Abenden seltsamster Natur“. Aber es waren nicht die Anlässe oder die Prominenten, sondern die Nebenerscheinungen, die er interessant fand. Etwa „die schöne Elke“, die „mit einer Leder-Hamburgerin“ ein Paar war. Die beiden kamen öfter, und eines Abends, die Bar lief wie die Feuerwehr, war auch die Modedesignerin Jil Sander in Begleitung dort. „Nach einer Stunde, es floss Alkohol, hörte ich Frau Sander sagen: Komm du mir nach Hause, du Fotze!“ Er habe gedacht, er habe sich verhört. Jil Sander! Aber es kam noch einmal. „Na, na,“ habe die schöne Elke gesagt, „wer wird denn gleich so zärtlich werden?“ Würthle eilt hin: „Meine Damen, darf ich Ihnen eine Flasche ausgeben?“ Ein guter Wirt muss auch deeskalieren können.

Und natürlich beherrscht Würthle auch das Spiel mit den Tischen: Nicht reservieren zu müssen, ist immer eine Machtfrage, einige kriegten immer einen Tisch. „Kriegt man einen schlechten Tisch, macht man ihn halt zu einem großartigen. Und kriegt man einen wunderbaren Angebertisch, gibt man ganz wenig Geld aus.“ So geht das Spiel.

Was wir hässlich nannten, war besonders schön.

Michel Würthle, Erfinder der Paris Bar über West-Berlin

Oft sei die Kritik gekommen: arrogante Kellner. „Aber nicht von der Seite der Minderbetuchten“, darauf legt Würthle Wert. Es war die sogenannte Geldklasse, die Würthle ohnehin nicht leiden kann, „die Männer sehen aus wie von ihren Frauen angezogen“. Leute, die nicht mal den schlechten Geschmack beherrschen.

Michel Würthle, ursprünglich aus dem idyllischen Hallstatt im Salzkammergut, wo angeblich niemand hinfährt, weil allen der See zu kalt ist, mochte alles an diesem verrückten Berlin. „Was wir hässlich nannten, war besonders schön.“ Tagelang lachten sie allein über Namen, „Max Marotzke“. Sogar die Polizei mochten sie, „das war ja eine Lieblichkeit gegen die in Paris, Rom oder Wien!“

Wolfgang Joop und Desireé Nick feiern Silvester zur Jahrtausendwende  auf der Berliner Kantstraße.
Wolfgang Joop und Desireé Nick feiern Silvester zur Jahrtausendwende auf der Berliner Kantstraße.

© picture-alliance / Berliner_Zeitung

Was war zuerst da? Das Lokal oder die Gesellschaft? Definiert die Gesellschaft ihren Ort oder schafft der Ort die Gesellschaft? Ja, gäbe es die Gesellschaft eventuell gar nicht ohne den Ort, an dem sie zusammenkommt?

Würthle kann das nicht mehr auseinanderhalten. Seine Lebenskunst hat um Tische herum stattgefunden. Er hat sie reserviert, gedeckt, abgeräumt, draufgehauen, darauf getanzt. Tische, um die sich Menschen gruppierten, über denen das Wesentliche doch unsichtbar blieb: die feinen Kurven des Gesprächs. Das Locken, Provozieren, Kontern. Man kann noch so viele Tische zeigen – nie sieht man die Fäden, die darüber gesponnen werden. Die die Verbindungen ausmachen, Beziehungen herstellen und am Ende das Geflecht bilden, das sich dann Gesellschaft nennt. Würthle ist selbst Teil des Tableau vivant, das er erstellt hat. Eine jahrzehntelange Performance. „Mir kommt das vor wie ein geknüpfter Teppich.“

Zuerst kamen die Menschen, dann die Werke

Und obwohl er selbst Künstler ist und als Kunstliebhaber gilt, sagt er: „Ich muss zugeben, ich habe mich für den Menschen interessiert. Zuerst kamen die Menschen, dann die Werke.“ Er weiß: „Bei manchen Künstlern hat man, sobald man ihre Arbeit gesehen hat, schon das Beste von ihnen gehabt.“

Heute, sagt Würthle, könnte er das Lokal nicht mehr als Galionsfigur führen. „Weil ich es nicht mehr hergeben könnte, das Dasein.“ Er ist fast 80. „Gesamtberlin“ reizt ihn nicht mehr. „All die langweiligen Bauten, die genau so lange interessant aussehen, bis der letzte Kran abgebaut ist“, sagt er. Obwohl, es gebe auch heute gute, sogar erfolgreiche Lokale, natürlich ein etwas anderer Zuschnitt.

Hat Würthle lieber als Kleinpromis und Politiker: Hannelore Elsner, Vadim Glowna und Wolfgang Joop begießen in der Paris Bar den Deutschen Filmpreis 2000
Hat Würthle lieber als Kleinpromis und Politiker: Hannelore Elsner, Vadim Glowna und Wolfgang Joop begießen in der Paris Bar den Deutschen Filmpreis 2000

© SEEGER

Das Borchardt? - Ach was, sagt Würthle, „das ist für Kleinpromis und Politiker“. Das Grill Royal von Boris Radczun schätzt er, die zeitgenössische Interpretation eines attraktiven Lokals. „Er hat zum ersten Mal die Unverschämtheit und die Großartigkeit gewisser Londoner Lokale imitiert.“ Das war neu. Und dann der Ort an der Weidendammer Brücke am Wasser in dem alten Plattenbau: „Oben riecht es nach Stalinismus, unten drin ist es mondän.“

In seiner eigenen Wohnung nimmt Würthle jetzt zum ersten Mal in seinem Leben den Staub wahr. Das irritiert ihn. Als wäre die Jahrzehnte zuvor kein Staub gefallen. Mit einer gewissen Zwangsläufigkeit denkt er über die letzten Dinge nach. Er kämpft gegen den Krebs, hatte eine Chemotherapie. Das habe ihn mehr verändert, als er es sich habe vorstellen können. Er stehe jetzt vor ganz neuen Empfindungen. Mit 63 Kilo sei das Zunehmen jetzt ärztliche Pflicht. Und doch: „Was alles hätte passieren können, ist nicht passiert.“ Das Glück, „schon wieder mal, so wie die ersten 75 Jahre“, scheint wieder auf seiner Seite.

Michel Würthle, gesehen von dem Künstler Christopher Williams, vor der Paris Bar im Juni 2022
Michel Würthle, gesehen von dem Künstler Christopher Williams, vor der Paris Bar im Juni 2022

© Foto: Christopher Williams

Würthle ist schon lange nicht mehr der Besitzer der Paris Bar. Seit einem unangenehmen Steuerstrafverfahren führen es zwei Geschäftsführer in seinem Sinne. In der Corona-Zeit hatten sie die Idee, einen Außer-Haus-Verkauf einzurichten. Würthle war erst skeptisch, „das ist ein völlig anderes Geschäft“. Es entstehe keine Gesellschaft beim Verzehr, wenn jeder für sich zu Hause etwas isst. Aber Würthle hat dann doch großen Gefallen daran gefunden, für diesen Verkauf die Speisekarten zu schreiben und zu zeichnen. Viele von ihnen sind in den sechs Steidl-Bänden zu sehen.

Würthle ist weiterhin mehrmals in der Woche in der Paris Bar. Er trifft Freunde, und zugleich verleiht er mit seiner Anwesenheit dem Ort Relevanz. Man kann jederzeit dort essen, etwa ein französisches Kartoffelgratin. Die Paris Bar ist längst Teil von Zeit- und Berlin-Geschichte geworden. Sie hat einen bleibenden Abdruck hinterlassen in der Stadt. Würthle geht regelmäßig hin, um nach dem Rechten zu sehen. Unsterblich ist der Ort längst.

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