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Manjas Tochter ist in Russland, schon lange hat die alte Frau nichts mehr von ihr gehört.

© Victoria Ivleva

„Nach dem vierten Angriff brach ich zusammen“: Eine Woche in der Winterhölle von Bachmut

In Bachmut tobt die längste Schlacht des russischen Angriffskriegs. Kurz bevor die Stadt in der Ostukraine fast vollständig eingekesselt wurde, war unsere Autorin dort. Eine Fotoreportage.

Von Victoria Ivleva

Ein Vorgeschmack auf das Leid erscheint lange vor der Einfahrt nach Bachmut. Er liegt in der Trostlosigkeit, in den verlassenen Häusern, in den mit Farbe beschmierten oder völlig fehlenden Namen der Dörfer, durch die der Weg führt. In der ungewöhnlich leeren Straße, auf der selbst tagsüber fast keine zivilen Autos fahren, auf dem Asphalt, der durch die Spuren von Panzern, Artillerie und anderem militärischen Gerät entstellt ist.  

Er liegt in den Panzerabwehr-Igeln, Straßensperren und Betonpollern. Aber vor allem in den vorbeifahrenden Autos mit weißen Kreuzen, die verwundete Soldaten vom Schlachtfeld holen.

Alles ist durchtränkt vom Krieg, alles atmet ihn, alles hängt von ihm ab und ist ihm untergeordnet – als gäbe es nirgendwo auf der Welt normales menschliches Leben.

Auf dem Weg nach Bachmut.
Auf dem Weg nach Bachmut.

© Victoria Ivleva

Ein Ladenlokal im Zentrum der Stadt.
Ein Ladenlokal im Zentrum der Stadt.

© Victoria Ivleva

Männer reparieren den Schornstein eines Brennholzofens.
Männer reparieren den Schornstein eines Brennholzofens.

© Victoria Ivleva

Larissa kommt jeden Tag zu einem der „Punkte der Unbesiegbarkeit“ in Bachmut, wie Hilfszentren in der ganzen Ukraine heißen, anfangs um Wasser zu holen, später um zu plaudern und zu essen.

„Ich schreibe Gedichte“, erklärt sie mir. „Möchten Sie, dass ich Ihnen eins vorlese?“ Sie stellt den Kanister auf den Boden, wischt sich mit dem Ärmel ihres schmutzigen Mantels den Mund ab, richtet sich auf und liest:

Uns streichelt der Fluss Sula, schließt uns in seine Arme,
Er zieht in die dunkle Ferne und setzt in seinem Lauf seinen einsamen Weg fort.

In diesem Moment ist ein Schuss zu hören. Larissa achtet nicht darauf, sie liest weiter:

Ich werde vom Steilufer in das Gelb der Lilien fallen
Und ich schwimme weit flussabwärts, verstecke mich hinter der Biegung

Ein neuer Knall, näher. Larissa macht weiter, ohne mit der Wimper zu zucken.

Auf dem Weg werde ich eine blaue Beere treffen und in der Stille erstarren,
Und ich werde zum Steilufer kommen, ein Feuer machen,
Meine Hände wärmen, den Kopf in den Nacken werfen, zum blauen Himmel

„Möchten Sie, dass ich Ihnen ein Gedicht vorlese?“ Larissa bei einer Wasserausgabe.
„Möchten Sie, dass ich Ihnen ein Gedicht vorlese?“ Larissa bei einer Wasserausgabe.

© Victoria Ivleva

Sie wedelt den dritten Knall weg wie eine lästige Fliege, rezitiert das Gedicht und spricht dann sehr schnell über sich, unter nicht endenden Automatiksalven:

„Ich werde 60 Jahre alt, habe drei Diplome. Ich war Winzermeisterin, dann habe ich als Schreibkraft für 70 sowjetische Rubel in der Pobeda-Fabrik gearbeitet, danach in einer Kantine mit einem Zuschuss als Arbeitsveteranin, für 2300 Hrywnja… Ich habe noch etwas über Afghanistan, sechs meiner Klassenkameraden haben dort gedient, wollen Sie hören?“

Ich frage sie gar nicht erst, ob sie Bachmut verlassen will.

Zentimeter vom Tod entfernt

Die ersten Geräusche von Bachmut sind die eindringlichen, grollenden Schüsse und Explosionen, die aus verschiedenen Richtungen kommen. Manchmal verstummen sie, aber die einsetzende Stille fühlt sich nicht weniger bedrohlich an. Man macht einen Schritt und weiß nicht, was als Nächstes passieren wird. Man versteht nur, dass man völlig ungeschützt ist, nur wenige Augenblicke vom Tod entfernt. Oder auch nur ein paar Zentimeter.

Überall in der menschenleeren Stadt sind die schwarzen Löcher der Fenster ohne Glas zu sehen, Häuser, die in Kälte und Ruinen versunken sind, dunkle Rauchwolken, Drachenschwänze, die in die Höhe steigen. Das Gefühl, dass eine fantastische Gefahr gleich in der Nähe lauert, lässt einen nicht eine Minute los. Man befindet sich hier in dauerhafter psychischer Anspannung. Ein einfacher Gang auf die Straße kann der letzte im Leben sein.

Heute ist es in Bachmut, einer kleinen Stadt, die vor kurzem noch schön, gepflegt und mit Rosen übersät war, schwierig, einen Ort zu finden, der vom Krieg verschont geblieben ist. Wohin man auch schaut, wohin man auch geht, man stößt unweigerlich auf ein Haus, das durch einen Granattreffer zerstört wurde, oder auf ein Dach, das durchlöchert ist.

Es gibt einen Laternenpfahl, dessen Spitze wie ein Streichholz abgebrochen ist, tote Stromleitungen, die wie Ranken herabhängen; zerrissene Metallteile, die sich mit Glasscherben und Ziegelsteinen vermischen. Die Fenster im Erdgeschoss sind mit Sandsäcken bedeckt, und Zungen aus kohlschwarzem Ruß kriechen an den Wänden der Hochhäuser hinauf. Besonders grauenhaft sind die klaffenden Löcher in den Wänden.

Wir dachten, die Dinge würden sich bald beruhigen.

Vera auf die Frage, warum sie Bachmut nicht früher verlassen hat

In diesem unvorstellbar verstümmelten Raum leben Menschen. Die Verwaltung von Bachmut schätzt ihre Zahl auf 5000 oder 6000, also weniger als zehn Prozent derer, die vor gut einem Jahr hier lebten. Niemand begibt sich einfach so auf die Straße – um spazieren zu gehen oder jemanden zu besuchen –, denn das könnte einen das Leben kosten. Es gibt keine Heizung und große Probleme mit der Wasserversorgung. Strom und Gas fehlen. Manche Menschen haben ihre Häuser und Keller seit Monaten nicht verlassen.  

Ein zerstörtes Haus in der „Straße der Freiheit“.
Ein zerstörtes Haus in der „Straße der Freiheit“.

© Victoria Ivleva

Überall in der Stadt sind die Spuren des Krieges zu sehen.
Überall in der Stadt sind die Spuren des Krieges zu sehen.

© Victoria Ivleva

Blick auf die Allerheiligenkirche von Bachmut aus einer zerstörten Wohnung heraus.
Blick auf die Allerheiligenkirche von Bachmut aus einer zerstörten Wohnung heraus.

© Victoria Ivleva

Am Morgen des Tages, an dem freiwillige Helfer Vera und ihre Mutter abholen und in Sicherheit bringen sollen, explodiert eine Granate fünf Meter von ihrem fünfstöckigen Wohnhaus entfernt. Die Explosion sprengt alle Fensterscheiben im Schlafzimmer heraus, Splitter zerschmettern das Bett, auf dem Vera und ihre Mutter geschlafen hatten. 

Ihr Leben wird durch einen Zufall gerettet: Zum Zeitpunkt der Explosion packen die Frauen gerade in einem Zimmer, das zur anderen Seite hinausgeht.

„Vera“, frage ich, „warum bist du nicht früher gegangen?“

„Wir dachten, die Dinge würden sich bald beruhigen“, antwortet sie.

Inzwischen sind sie und ihre Mutter in Finnland.

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Ich treffe Soja Grigorjewna, sie ist 89 Jahre alt, eine Großmutter. Ihr Sohn Oleg starb folgendermaßen: Ein Granatsplitter traf ihn und zerfetzte seine gesamte untere Körperhälfte. Er starb auf der Stelle, im Hof eines Nachbarhauses, wohin er gegangen war, um Kohlen zu holen. Die Nachbarn brachten ihn in ein nahes leerstehendes Wohnhaus, wo der tote Oleg zwei Tage lang lag. An dem Tag, an dem wir ankommen, wird der Leichnam vom Bestatter abgeholt. Großmutter Soja weint und weigert sich beharrlich wegzugehen, bis Oleg beerdigt ist.

Am nächsten Tag bringen wir ihr die Videobotschaft einer Verwandten, Lena, die Soja Grigorjewna anfleht zu gehen. An diesem Morgen ist Oleg begraben worden. 

Die Großmutter liegt in ihrem eisigen Bett unter all ihren Decken und Stofftüchern und sieht sich weinend das Video von Lena an, das wir mitgebracht haben.

„Also, Soja, kommst du?“,  fragen wir.

Soja und wischt sich mit der Hand über das tränennasse Gesicht. „Ich gehe.“

Soja Grigorjewna, 89, wird von den freiwilligen Helfern aus ihrem Haus gebracht. Sie hatte die Beerdigung ihres Sohnes abgewartet.
Soja Grigorjewna, 89, wird von den freiwilligen Helfern aus ihrem Haus gebracht. Sie hatte die Beerdigung ihres Sohnes abgewartet.

© Victoria Ivleva

Mit Mühe ziehen wir sie im Licht einer Taschenlampe an – es gibt kein Licht im Haus, alle Fenster sind mit Brettern vernagelt und mit Sandsäcken zugestellt. Sie kann kaum laufen. Die freiwilligen Helfer Oleg und Artem tragen Soja praktisch aus dem Haus. Eine Stunde später ist sie in einem Schutzraum in Kramatorsk.

Sie gehen wie verhext zurück

In der Stadt gibt es mehrere funktionierende Geschäfte, die Grundnahrungsmittel, Baumaterialien und Drogerieartikel verkaufen. Für die Rentner von Bachmut ist es kompliziert: Bis vor kurzem wurden die Renten im 17 Kilometer entfernten Tschassiw Jar ausgegeben, aus einem Auto in der Nähe der Polizeistation. Nachdem sie ihr Geld erhalten haben, gehen sie nicht weg vom Krieg, sondern kehren wie verhext nach Bachmut zurück, verstreuen sich in ihre Keller und ungeheizte Häuser und bleiben an diesem gefährlichsten Ort der Welt, dem Schlachtfeld.  

Ihr Glück und zugleich ihr Unglück liegen darin, dass sie das Grauen, in das der Krieg sie stürzt, nicht wahrnehmen

Und ich kann nur erahnen, wie gestresst die Menschen sind, die hier ständig leben und scheinbar auf nichts achten.

Mein Gott, das Licht ist an. Und man kann es ausschalten und dann wieder anschalten! Wie konnten wir in solchem Horror leben?

Ludmila kurz nach ihrer Rettung aus der Stadt

„Ich habe mich immer für sehr stark gehalten. Aber nach dem vierten Angriff bin ich zusammengebrochen. Mir wurde klar, dass sie einfach anfingen – wie soll ich sagen –, uns auszuhöhlen. Ja, genau das – aushöhlen“, sagt Ludmila, die wir gemeinsam mit ihrem erwachsenen Sohn aus Bachmut herausholen.

Wir bringen sie in eine Unterkunft in Slowjansk, sie setzt sich auf eine Bank und flüstert: „Mein Gott, das Licht ist an. Und man kann es ausschalten und dann wieder anschalten! Wie konnten wir in solchem Horror leben?“

Letzter Luxus Friseursalon

Die Hilfszentren in Bachmut sind von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags geöffnet. Dort kann man Telefone, Geräte und Taschenlampen aufladen, mithilfe von Starlink Verwandte anrufen, heißen Tee trinken, essen, fernsehen, Medikamente bekommen und einfach unter Menschen im Warmen sitzen. In der Nähe eines dieser Stützpunkte wurde ein Brunnen gebohrt, und seit dem Morgen ziehen Menschen Karren voller leerer Behälter heran, um Wasser zu holen. Es gibt auch Duschen, Waschmaschinen und einen Friseursalon, ein Luxus, der für das heutige Bachmut untypisch ist und unter den freiwilligen Helfern und allen an der Evakuierung Beteiligten für große Kontroversen sorgt. 

„Die Notunterkunft sollte sich nur in einem Luftschutzbunker befinden und extrem asketisch sein: Wasser, heißer Tee, Ladegeräte, Medikamente und ein Evakuierungspunkt. Mehr nicht. Damit niemand das Gefühl bekommt, dass das Leben besser wird, dass man abwarten kann“, sagt mein alter Freund Schenja, ein Freiwilliger seit 2014. „Der Sinn für Gefahr ist bei Menschen, die in ständiger Bedrohung leben, verkümmert. Sie verstehen nicht wirklich, dass keine Waschmaschine sie vor einem Raketentreffer bewahrt und kein Friseursalon dafür sorgen kann, dass ihnen nicht eine Granate den Kopf wegbläst.“

Ein Friseursalon in einem der humanitären Stützpunkte von Bachmut. Einige Helfer kritisieren, solche Angebote würden Bewohnern ein falsches Gefühl von Sicherheit vermitteln.
Ein Friseursalon in einem der humanitären Stützpunkte von Bachmut. Einige Helfer kritisieren, solche Angebote würden Bewohnern ein falsches Gefühl von Sicherheit vermitteln.

© Victoria Ivleva

Bachmuter nehmen an einem Gottesdienst teil.
Bachmuter nehmen an einem Gottesdienst teil.

© Victoria Ivleva

Einer der „Punkte der Unbesiegbarkeit“, an denen sich die in Bachmut verbliebenen Menschen mit dem Nötigsten versorgen können.
Einer der „Punkte der Unbesiegbarkeit“, an denen sich die in Bachmut verbliebenen Menschen mit dem Nötigsten versorgen können.

© Victoria Ivleva

Eines Tages fahre ich mit Gena, einem Einwohner von Konstantinowka, nach Bachmut. Er ist von Beruf Baggerfahrer und im Geiste ein praktizierender Christ. Dreimal pro Woche kommt er nach Bachmut, um mit seinem Auto kostenlos Wasser von einer Quelle unweit seines Hauses zu bringen, 500 Liter pro Fahrt. 

Die Leute erwarten Gena schon, sie entladen das Auto schnell und bedanken sich, und ich bemerke das gute Aussehen dieser Männer und Frauen, die jetzt vor einem nicht mehr funktionierenden Supermarkt Schlange stehen und sich wirklich über einfaches Wasser freuen. Warum bleiben diese offensichtlich selbständigen Menschen in einer Stadt, in der es unmöglich ist, zu leben?

Jeder hier hat etwas, sein eigenes Geheimnis, seine eigenen Gründe. Und manch einer hat einfach Angst vor dem Unbekannten.

Gena, ein freiwilliger Helfer, auf die Frage, warum Menschen in Bachmut ausharren

Gena sagt: „Ich kenne eine von ihnen, ihre Mutter liegt nach einem Schlaganfall im Keller, sie hat Angst, dass sie nirgendwohin gebracht wird, und es gibt hier keine Krankenwagen oder Ärzte.“   

„Vielleicht sind sie Freunde der ,russischen Welt‘?“, spekuliere ich.

„Ich habe mit vielen Leuten hier gesprochen und meine pro-ukrainische Position klargemacht, irgendwie hat niemand widersprochen“, antwortet Gena. „Liebhaber der ,russischen Welt‘ geraten in der Regel sofort in einen Streit. Jeder hier hat etwas, sein eigenes Geheimnis, seine eigenen Gründe. Und manch einer hat einfach Angst vor dem Unbekannten – er ist es gewohnt, an diesem Ort zu leben, er kennt jeden Winkel, es scheint ihm, dass er die Situation irgendwie kontrollieren kann.“

Leben in Kellern

An einem „Punkt der Unbesiegbarkeit“ treffe ich drei Kinder. In der Mitte steht Milanka, ihre Mutter Natascha ist für die Verteilung von Medikamenten in dem Zentrum zuständig, und Dima, Milankas Vater, arbeitet dort als Ingenieur. Milanka hatte auch einen älteren Bruder, Alexej, 16 Jahre alt. Im April 2022 beschlossen Alexej und seine Großmutter, Bachmut zu verlassen. Am Bahnhof in Kramatorsk, wo sie auf den Zug warteten, ging er aus irgendeinem Grund nach draußen.

Es war der 8. April, als der Bahnhof von Kramatorsk von einer russischen Rakete angegriffen wurde. Alexej war auf der Stelle tot. Natascha und Dima versuchten daraufhin, mit Milanka wegzufahren – aber Dimas Auto hatte eine Panne, und sie schafften es gerade noch zurück nach Bachmut. Dann sind sie nirgendwo mehr hingefahren.

Milanka (Bildmitte) verlor ihren Bruder Alexej im April 2022, als ein russischer Raketenangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk den 16-Jährigen tötete.
Milanka (Bildmitte) verlor ihren Bruder Alexej im April 2022, als ein russischer Raketenangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk den 16-Jährigen tötete.

© Victoria Ivleva

Ein ältere Frau wird aus Bachmut herausgebracht. Für sie und viele andere ist die Flucht ein Aufbruch ins Ungewisse.
Ein ältere Frau wird aus Bachmut herausgebracht. Für sie und viele andere ist die Flucht ein Aufbruch ins Ungewisse.

© Victoria Ivleva

Eine Frau mit Wasserkanistern, die Helfer nach Bachmut gebracht haben.
Eine Frau mit Wasserkanistern, die Helfer nach Bachmut gebracht haben.

© Victoria Ivleva

Gena und ich werden gebeten, eine alte Frau zu evakuieren. Nadeschda Dorofejewna ist 93 Jahre alt. Sie ist völlig blind. Seit einiger Zeit lebt sie allein im Haus der Nachbarn, die Besitzer sind weg. Eine Frau kam, um sich um sie zu kümmern, aber nun ist auch sie weggegangen. Dorofejewna hat sich ebenfalls auf den Weg gemacht, da sie als Blinde allein nicht überleben kann.

In der Straße, in der sie lebt, sind unablässig Schüsse und Explosionen zu hören. 

„Hier“, sagt sie zu mir, „nimm meinen Trauerknoten, Kind, er liegt gleich hier neben mir (ein Bündel, in dem schon zu Lebzeiten Trauerkleidung für die Beerdigung gesammelt wird, Anm. d. Red.).“ 

Ich nehme den Knoten, gebunden wie in alten Märchen.

„Ist das alles?“, fragt Gena.

„Ich habe noch eine Tasche mit Kleidung gepackt.“

Wir nehmen die Tasche auch mit und gehen hinaus.  

„Wo ist mein Trauerknoten? Leg ihn mir auf meinen Schoß, damit ich weiß, dass er da ist.“

Blick aus dem Auto auf ein zerstörtes Gebäude.
Blick aus dem Auto auf ein zerstörtes Gebäude.

© Victoria Ivleva

Fließend Wasser gibt es in vielen Wohnung nicht mehr. Auch Strom und Gas fehlen.
Fließend Wasser gibt es in vielen Wohnung nicht mehr. Auch Strom und Gas fehlen.

© Victoria Ivleva

Mitarbeiterinnen eines Hilfszentrums in Bachmut.
Mitarbeiterinnen eines Hilfszentrums in Bachmut.

© Victoria Ivleva

Sie setzt sich mühsam ins Auto. Aus dem Haus gegenüber kommt Manja, um sich zu verabschieden – eine alte, gekrümmte Frau, die sich schwer auf zwei Stöcke stützt. Manja bleibt fast allein in ihrer Straße, die anderen Nachbarn sind schon weg, nur ein kranker Mann namens Wasja ist noch da.

Manja beginnt zu weinen, Dorofejewna sitzt mit versteinerter Miene da und umklammert den Trauerknoten. 

„Ich will zu meinen Kindern, zu meiner Tochter“, sagt Manja weinend. 

„Und wo ist sie?“, fragt Gena.

„Im Norden“, antwortet Manja.

„In Russland?“

„In Russland.“

„Ruft sie Sie an?“

„Sie ruft schon lange nicht mehr an.“  

Was können wir für Manja tun? Ihre Tochter ruft nicht an, man kann sie nirgendwo hinbringen, und sie geht nirgendwo hin.

Manjas Tochter ist in Russland, schon lange hat die alte Frau nichts mehr von ihr gehört.
Manjas Tochter ist in Russland, schon lange hat die alte Frau nichts mehr von ihr gehört.

© Victoria Ivleva

Zwei Friedhöfe gibt es in Bachmut, einer ist unzugänglich, weil er im Kampfgebiet liegt (nicht im Bild)…
Zwei Friedhöfe gibt es in Bachmut, einer ist unzugänglich, weil er im Kampfgebiet liegt (nicht im Bild)…

© Victoria Ivleva

…auf dem anderen hat jemand einen Schwan aus Blumen ans Grab einer Frau namens Victoria Valeryevna Sergiyenko gestellt (16. Juni 1969 – 6. Januar 2023).
…auf dem anderen hat jemand einen Schwan aus Blumen ans Grab einer Frau namens Victoria Valeryevna Sergiyenko gestellt (16. Juni 1969 – 6. Januar 2023).

© Victoria Ivleva

Im Auto fängt Dorofejewna an zu erzählen, wie sie früher in einer Nähfabrik gearbeitet hat, wie sie vor 20 Jahren aufgehört hat zu sehen, dann erinnert sie sich an ihre Jugend und welche Lieder damals gesungen wurden. Sie fängt an, ein Lied über einen Hirten und ein Mädchen zu singen.  

In Slowjansk, in der Notunterkunft, sagt sie plötzlich: „Du bringst mir morgen einen Schmirgelstein, mit dem Messer geschliffen werden.“

„Mein Gott, Dorofejewna, wozu brauchst du einen Schmirgelstein in der Unterkunft? Und wo soll ich ihn für dich finden?“

„Frag den Fahrer. Ich brauche ihn dringend, ich schleife damit meine Zehennägel, mit der Schere geht es nicht, meine Nägel sind so dick.“

Am nächsten Tag frage ich in Bachmut einen Mann, ob er einen hat. „Ja“, sagt er und er holt einen ziemlich schweren Stein hervor. „Wofür brauchen Sie ihn?

Ich sage: „Dorofejewna muss ihre Nägel abschleifen.“ – „Warte“, sagt der Mann. „Ich habe einen kleinen für sie, es wird ihr schwerfallen, diesen festzuhalten.“

Walja, eine betagte Frau, die seit Jahrzehnten in der Stadt lebt, wäre bereit zu gehen…
Walja, eine betagte Frau, die seit Jahrzehnten in der Stadt lebt, wäre bereit zu gehen…

© Victoria Ivleva

…Waljas Tochter befindet sich im vergleichsweise sicheren Kiew…
…Waljas Tochter befindet sich im vergleichsweise sicheren Kiew…

© Victoria Ivleva

…doch ihr Sohn ist psychisch krank und kann Bachmut nicht verlassen. Also bleibt auch sie.
…doch ihr Sohn ist psychisch krank und kann Bachmut nicht verlassen. Also bleibt auch sie.

© Victoria Ivleva

Er geht in den Hof, klappert mit seinen Werkzeugen, sucht. Irgendwann bringt er ein kleines rosafarbenes Schleifrad: „Hier, gib ihr das, das ist genau richtig für sie.“ Dorofejewna freut sich, drückt das Schleifrad an sich und sagt: „Ein Gruß aus der Heimat, aus Bachmut.“

Dorofejewna begann ihr Leben im Jahr 1930 – der Holodomor geschah fast unmittelbar danach, sie überlebte. Heute, am Ende ihres Lebens, wütet der Krieg. Und sie, fast hundert Jahre alt und blind, verlässt die Hölle, hält ihren Trauerknoten auf dem Schoß und singt ein ukrainisches Lied.

Die Nachrichten aus Bachmut werden immer beunruhigender. 

Es ist nicht mehr möglich, jemanden mit dem Auto aus der Stadt zu bringen. 

Wahrscheinlich kann man die Stadt noch zu Fuß verlassen. 

Ich wünsche mir so sehr, dass alle überleben.

Aber ich weiß, dass das unmöglich ist.

© Victoria Ivleva

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