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Olena Kontsevych war Moderatorin und Podcasterin in Odessa. Inzwischen arbeitet sie als Fixerin für ausländische Journalisten.

© privat | Bearbeitung: Tagesspiegel

Literatur-Podcasterin in schusssicherer Weste: „Der Krieg versucht einen bei jeder Gelegenheit abstumpfen zu lassen“

Olena Kontsevych war Radiomoderatorin, heute hilft sie ausländischen Reportern mit Berichten aus der Südukraine. Oft weiß sie nicht, ob sie abends heil nach Hause kommt.

Von Olena Kontsevych

Vor einem Jahr weitete Russland seine Invasion in die Ukraine auf das gesamte Land aus. Das Leben der Menschen dort hat sich seit Februar 2022 radikal verändert. Kaum jemand, der nicht von persönlichen Verlusten erzählen kann, vom Sterben und Fliehen, vom Kämpfen und Überleben. Kurz nach Beginn des Überfalls bat der Tagesspiegel Ukrainerinnen und Ukrainer, für das Multimedia-Projekt „Ein Tag im Krieg“ in Echtzeit aus ihrem neuen Alltag zu berichten. Ein Jahr später haben wir sie wieder erreicht. Olena Kontsevych, 39, war als Rundfunkmoderatorin tätig, bevor der Krieg in ihre Stadt Odessa kam. Hier ist ihr Bericht.


„Ich sah, wie von Streubomben getötete Zivilisten von den Straßen gekarrt wurden“

Im Krieg werden die Dinge, die einen beeindrucken, mit der Zeit immer weniger. Ich habe Menschen getroffen, deren Verwandte direkt vor ihren Augen getötet wurden. Ich habe mit Männern und Frauen gesprochen, die von den Russen gezwungen wurden, durch ein Minenfeld zu rennen. Ich habe die Krankenhäuser besucht, in denen unsere verwundeten Soldaten behandelt werden. Ich habe gesehen, wie von Streubomben getötete Zivilisten von den Straßen gekarrt wurden.

Als ich am Morgen des 24. Februar aufwachte, konnte ich nicht glauben, dass Russland uns wirklich angreift. Ich glaube es bis heute manchmal nicht. Wer hätte sich vorstellen können, dass die bekannte Oper von Odessa mal verbarrikadiert sein würde? Seitdem hat sich das Leben wirklich aller Ukrainer komplett gewandelt. Meins ist keine Ausnahme. Vor einem Jahr moderierte ich eine beliebte Radiosendung und machte einen Literatur-Podcast aus einem bequemen Studio im Zentrum der Stadt.

Heute arbeite ich als Fixerin, also als Beraterin und Helferin für ausländische Journalisten, die aus der Südukraine berichten. Vor dem Krieg wusste ich noch nicht mal, dass es so etwas gibt. Jetzt ist es mein Job, zerstörte Dörfer zu besuchen und solche, die noch beschossen werden. Oft weiß ich nicht, ob ich am Abend heil zurückkommen werde.

Vor einem Jahr machte ich mir Gedanken darüber, was ich für eine TV-Produktion anziehen soll. Heute liegen in meiner Wohnung Helme und schusssichere Westen herum. Ich habe mich dermaßen an das Heulen des Luftalarms gewöhnt, dass ich ihn nicht mal mehr höre.

Der Krieg versucht einen bei jeder Gelegenheit abstumpfen zu lassen. Aber zumindest mich lässt es nicht kalt, wenn ich irgendwo in der Gegend um Mykolajiw eine alte Frau treffe, die sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, ihr Haus zu verlassen – obwohl von allen Seiten Raketen auf sie herabregnen. Weil sie es nicht übers Herz bringt, ihre Kuh alleine zu lassen. Oder wenn ich mitansehen muss, wie die Bewohner der gerade erst befreiten Stadt Cherson auf die Straße strömen, wie sie sich verbeugen, auf die Knie fallen und Freudentränen vergießen, wenn sie ein ukrainisches Militärfahrzeug sehen.

In diesem Jahr habe ich mein Land neu kennengelernt. Unter unmenschlichen Bedingungen, ohne Strom, Heizung und Wasser. Unter dem ständigen Risiko, von Trümmern begraben zu werden, wenn Russland wie jeden Tag Raketen auf die Zivilbevölkerung schießt. Ich habe gelernt, dass ich stolz bin, Ukrainerin zu sein. Weil wir ein unzerstörbares Volk sind.

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