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Vlad Bolsun, 27, ist Kreativdirektor einer Marketingagentur in Kiew. Nach dem russischen Überfall 2022 gründete er die Organisation Kultura Dii, die humanitäre und psychologische Hilfe für Kriegsopfer leistet.

© privat | Bearbeitung: Tagesspiegel

Der Wert des Lebens in der Ukraine: „Lesha starb nahe Cherson. Er war ein gewöhnlicher Junge wie ich“

Eine Bar in Odessa, ein Typ mit tiefblauen Augen und Partylaune – wenig später ist er tot. Für den Kiewer Vlad Bolsun bleiben nach dieser Begegnung vor allem Fragen.

Von Vlad Bolsun

Vor einem Jahr weitete Russland seine Invasion in die Ukraine auf das gesamte Land aus. Das Leben der Menschen dort hat sich seit Februar 2022 radikal verändert. Kaum jemand, der nicht von persönlichen Verlusten erzählen kann, vom Sterben und Fliehen, vom Kämpfen und Überleben.

Kurz nach Beginn des Überfalls bat der Tagesspiegel Ukrainerinnen und Ukrainer, für das Multimedia-Projekt „Ein Tag im Krieg“ in Echtzeit aus ihrem neuen Alltag zu berichten. Ein Jahr später haben wir sie wieder erreicht.

Vlad Bolsun, 27, ist Kreativdirektor einer Marketingagentur in Kiew. Nach dem russischen Überfall 2022 gründete er die Organisation Kultura Dii, die humanitäre und psychologische Hilfe für Kriegsopfer leistet. Hier schildert er seine Erlebnisse.

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„Ich habe so viele Fragen. Warum wird uns das Leben gestohlen?“

Im Dezember fuhr ich mit meiner Freundin nach Odessa, diese weiß glänzende ukrainische Perle von Küstenstadt am Schwarzen Meer. Doch diesmal war die Perle schwarz. Die Russen hatten die gesamte Ukraine in Dunkelheit gestürzt. Die Straßen waren wie leergefegt. Kein Mensch war zu sehen, in der Luft nur ein allmächtiger, hämmernder Lärm: das tiefe Geräusch von Dieselgeneratoren.

Nach einem anstrengenden Tag beschlossen wir, in eine Bar in einem Hotel zu gehen. Sie war voller junger schöner Menschen, die zur Ambient-Musik des DJs versuchten, die Dunkelheit wegzulachen, die uns alle umgab.

Mir fiel ein Bargast auf, der noch mehr Energie ausstrahlte als die anderen. Dieser junge Typ, vielleicht 23 Jahre alt, lächelte und machte Witze: „Hey, gerade hat die Ausgangssperre begonnen. Wir können nicht mehr rausgehen, also müssen wir wohl das gesamte Hotel mieten und auf den Zimmern feiern!“ Natürlich war das ein Scherz, aber ich dachte: Wow, tolle Idee, ich wär dabei!

Zurück in Kiew, zurück zu unserer Kriegsroutine. Ich liege auf dem Sofa und scrolle auf meinem Handy durch die Tiktok-App. Da sehe ich eines der vielen ukrainischen Videos, die von jungen Männern handeln, die zu früh von uns gegangen sind und ihr Leben für uns gegeben haben. Ich sehe genauer hin. Diese tiefblauen Augen. Ich erkenne sie. Es ist der Typ aus der Hotelbar in Odessa. Er hieß Lesha, lese ich.

Wir brauchen mehr Waffen, um Russland für immer zu verbannen.

Vlad Bolsun

Irgendetwas passiert in meinem Herzen, und ich fühle einen Schmerz. Lesha hätte nicht sterben dürfen. Er sollte leben und Partys planen, Urlaubsreisen mit seiner Frau, Treffen mit seinen Freunden. Er sollte leben, genau wie die Tausenden anderen Ukrainer, die jeden Tag von Russen ermordet werden.

Lesha starb nahe Cherson. Er war kein Berufssoldat, der eine lange Ausbildung hinter sich hatte, sondern ein gewöhnlicher Junge wie ich.

Ich habe so viele Fragen. Warum wird uns das Leben gestohlen? Warum muss jeder von uns hier ständig denken: „Werde ich heute sterben oder nicht?“

Politiker im Ausland diskutieren über Lieferungen von Panzern, ATACMS und F-16. Ist unser Leben billiger als das anderer Europäer? Warum darf ein terroristischer Staat kleine Kinder töten, während seine Bewohner die Welt bereisen? Warum dürfen seine Sportler daran denken, bei den Olympischen Spielen anzutreten? Warum machen manche Unternehmer immer noch blutige Geschäfte mit ihnen? Warum sterben im 21. Jahrhundert jeden Tag unschuldige Menschen?

Ich habe so viele Fragen. Aber die Antwort ist einfach: Wir brauchen mehr Waffen, um Russland für immer zu verbannen.

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