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Der Nachbau von Alexej Nawalnys Zelle steht noch bis zum 23. Februar vor der russischen Botschaft in Berlin.

© Peter Rigaud für den Tagesspiegel

Oleg Nawalny über seinen inhaftierten Bruder: „Sie foltern Alexej genau nach Lehrbuch“

Jahrelang saß Oleg Nawalny in Russland im Gefängnis. Jetzt kämpft er um seinen dort inhaftierten Bruder. Ein Gespräch über Putin, die Ukraine – und den Trost, den Tolstoi spendet.

An einem schneidend kalten Januartag steht Oleg Nawalny vor der russischen Botschaft in Berlin und vergräbt die Hände in den Hosentaschen. Hinter ihm ragt der stalinistische Diplomatenpalast, Baujahr 1952, über den Prachtboulevard Unter den Linden. Davor haben sich rund 150 Menschen auf dem Mittelstreifen versammelt, um die Freilassung von Oleg Nawalnys Bruder, dem russischen Oppositionsführer Alexej Nawalny, zu fordern.

„Nawalny raus, Putin rein“ steht auf ihren Schildern – rein in die Gefängniszelle, deren Nachbau Oleg Nawalny gemeinsam mit der Anti-Korruptions-Stiftung, der Organisation seines Bruders, präsentiert. Das Original befindet sich rund 1800 Kilometer entfernt in der Strafkolonie IK-6, in Melechewo östlich von Moskau.

Wie der bekannteste politische Gefangene der Welt dort lebt, macht die begehbare Installation physisch begreifbar: zweieinhalb mal drei Meter, ein winziges Gitterfenster, ein Klo zum Hinhocken, ein Waschbecken und eine Pritsche, die von fünf bis 21 Uhr hochgeklappt wird.

Oleg Nawalny, 39, kurzgeschorenes Haar und Schnurrbart, sucht anders als Alexej selten die Öffentlichkeit. Im Vergleich zu seinem sieben Jahre älteren Bruder wirkt er fast schüchtern. Das Interview, das er nach der Aktion in der Tagesspiegel-Redaktion gibt, ist sein erstes ausführliches Gespräch mit einem deutschsprachigen Medium. Neben ihm sitzt Kira Jarmysch, Alexejs Pressesprecherin, die bei der Übersetzung aus dem Russischen hilft, in das Oleg immer wieder wechselt.

Oleg Nawalny in der Replik der Zelle, in der sein Bruder bereits über 100 Tage verbracht hat.
Oleg Nawalny in der Replik der Zelle, in der sein Bruder bereits über 100 Tage verbracht hat.

© Peter Rigaud für den Tagesspiegel

Herr Nawalny, wie geht es Ihrem Bruder?
Viel mehr als Sie weiß ich leider auch nicht. Ich verlasse mich hauptsächlich auf das, was er in seinen Briefen über die sozialen Medien schreibt. Seine Zelle ist ein Schiso…

… ein schtrafnoj isoljator, also Strafisolator…
…und aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ein Schiso dem körperlichen Wohlergehen nicht gerade zuträglich ist. Es ist sehr feucht und kalt dort. Und Alexej hat seit seiner Vergiftung ohnehin viele gesundheitliche Probleme.

Persönliche Briefe schreiben Sie einander nicht?
Doch. Er darf ja nicht mehr telefonieren, seit er in Einzelhaft verlegt wurde. Vor drei Tagen habe ich erst wieder einen Brief von ihm bekommen.

Was schreibt er?
Alles Mögliche. Er fragt nach meinen Söhnen. Er will wissen, was in der Welt der Wissenschaft los ist. Manchmal schreibt er mir von Sachen, von denen ich noch nie etwas gehört habe, dabei ist er es, der im Gefängnis sitzt. Diesmal will er was über einen KI-Chatbot wissen, also google ich ein bisschen für ihn rum.


Oleg Nawalny verbrachte in Russland selbst dreieinhalb Jahre in Haft. Verurteilt wurde er 2014 wegen angeblichen Betrugs bei der Vermittlung von Versandaufträgen zwischen der russischen Post und der französischen Kosmetikfirma Yves Rocher – obwohl diese angab, ihr sei kein Schaden entstanden. Das betreffende Kurierunternehmen hatte 2008 formal beiden Nawalny-Brüdern gehört, faktisch aber Oleg. Alexej blieb auf Bewährung frei, Oleg musste ins Gefängnis. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kritisierte die Entscheidung schon damals als Willkürurteil. Beobachter sprachen von Sippenhaft und einem Einschüchterungsversuch gegenüber dem aufstrebenden Putin-Widersacher Alexej Nawalny.

Alexej Nawalny (rechts) und sein Bruder Oleg nach dessen Freilassung 2018.
Alexej Nawalny (rechts) und sein Bruder Oleg nach dessen Freilassung 2018.

© dpa/Jean-Francois Badias

Inzwischen lebt Oleg im Ausland. Alexej überlebte im August 2020 einen aller Wahrscheinlichkeit nach von Wladimir Putin persönlich befohlenen Giftanschlag. In der Berliner Charité kam er wieder zu Kräften. Nach seinem Rückflug nach Moskau im Januar 2021 wurde er wegen vorgeblicher Bewährungsverstöße im Yves-Rocher-Fall festgenommen, seitdem ist er inhaftiert. Später kam eine zweite Haftstrafe hinzu, offiziell wegen Betrugs und Missachtung des Gerichts. Die offenkundig politisch motivierten Urteile summieren sich auf neuneinhalb Jahre.

Auch nach Oleg wird gefahndet – wegen des angeblichen Bruchs von Corona-Regeln bei einer Demonstration für seinen Bruder wurde er vergangenen Februar in Abwesenheit zu einem Jahr Haft verurteilt.


Tauschen Sie sich über Ihre Hafterfahrungen aus?
Ich habe Alexej über die Details seines Schiso gefragt, weil ich wissen wollte, ob er anders ist als damals meiner. Im Prinzip sind sie ähnlich, aber bei ihm sind die Umstände viel strenger. Er darf zum Beispiel nicht mit den Wachmännern sprechen. Außerdem haben wir über Zellennachbarn geschrieben.

In den sozialen Medien berichtet er, sein Nachbar sei ein „Psycho“, der 17 Stunden am Tag Obszönitäten brülle, mit verstellten Stimmen Selbstgespräche führe und belle wie ein Hund. Er vermutet Vorsatz – als psychologische Folter.
Daran besteht kein Zweifel. Vielleicht haben die Wachen dem Typen Freigang besprochen, wenn er rumbrüllt. Es ergibt keinen Sinn, einen Verrückten in den Schiso zu stecken. Die Wachen müssen sich das ja selbst die ganze Zeit anhören.

Könnte das Regime Ihren Bruder so brechen?
Nein. Er ist stark, und zerbrechen können Menschen nur von innen. Alexej weiß genau, was sie tun, denn sie foltern ihn genau nach Lehrbuch.

Was hilft? Lesen?
Ja, ich habe in Haft an die 1000 Bücher gelesen.

Was ist das Buch, das einem Häftling in Russland am meisten bringt?
Tolstois „Auferstehung“. In den ersten Monaten meiner Haft arbeitete ich in der Gefängnisbibliothek, und wenn mich Insassen um Empfehlungen baten, gab ich ihnen diesen Roman. Ehrlich gesagt hatte ich das Ding nie gelesen. Erst am Ende meiner Haft folgte ich meiner eigenen Empfehlung. Ich las es in meiner letzten Nacht zu Ende. Der Roman handelt von einem Adligen, der als Teil eines Geschworenengerichts eine Prostituierte wegen Mordes nach Sibirien schickt. Was nur er weiß, ist, dass er sie als Heranwachsende sexuell genötigt hat. Er besucht sie im Gefängnis und stellt fest, wie verdorben sein Leben und seine Gesellschaftsschicht sind. Großartig. Tolstois bestes Buch.

Sie haben Ihren Bruder im Gefängnis besucht. Wie fühlte sich das an?
Sehr unangenehm. Ich sah die Käfige, die Wachen, die ganzen Prozeduren. Es war wie eine Rückkehr. Mein Bruder hatte mich im Gefängnis besucht, jetzt besuchte ich ihn. Das fühlte sich falsch an.

Konnten Sie ihm vor seiner Inhaftierung Tipps geben?
Ein bisschen. Ich hatte ja ein Buch geschrieben. Aber vielmehr hatte er mir vor meiner Haft Bücher von Ex-Insassen gegeben. Naja, ich las nicht mehr als 20 Seiten. Im Transporter auf dem Weg zum Knast dachte ich mir: Fuck, warum?! Da kam mir die Angst, weil ich gar nichts wusste und sicher war, dass jetzt der Todestanz auf mich wartete. Aber als ich drin war, war es nicht mehr so schlimm.

Wirklich?
Naja, das erste Jahr war hart, weil ich oft verlegt wurde. Was ich meine: Man stellt fest, dass Kriminelle im Knast auch nur wie normale Leute rumsitzen und quatschen. Viele Jungs auf einem Haufen, das kann lustig sein. Es ist wie ein großes Ferienlager – bloß halt mit Mördern. Am Ende verstand ich, dass man sich nur an ein russisches Sprichwort halten muss: „Vertraue nicht, fürchte nicht, frage nicht.“

Die Gefangenen waren gegen das Regime, also für meinen Bruder und mich.

Oleg Nawalny über seine Mithäftlinge

Half Ihnen Ihr Nachname?
Auf jeden Fall. Die Gefangenen waren gegen das Regime, also für meinen Bruder und mich. Außerdem hörten die Wachen nach meiner Ankunft auf, Neuankömmlinge zu verprügeln. Und ich habe Gerichtsverfahren gegen die Verwaltung gewonnen, so wie es jetzt Alexej versucht. Es ging um unbedeutendes Zeug, Rauchen an bestimmten Orten und so. Aber meine Mitinsassen waren begeistert, weil einer von ihnen die Verwaltung besiegt hatte.

Wie gingen die Wachen mit Ihnen um?
Manche meinten es gut mit mir. Einer sagte: „Los, wir gehen zum Schiso, Anatoljewitsch“ (Nawalnys Patronym, Anm. d. Red.). Ich: „Warum? Ich habe nichts gemacht!“ Er: „Keine Ahnung, Moskau hat angerufen, ist ein Befehl.“ Und dann entschuldigte er sich.


Alexej Nawalnys Gesundheitszustand hat sich zuletzt stark verschlechtert. Mitte Januar schlugen mehr als 600 russische Mediziner in einem offenen Brief Alarm, woraufhin er zumindest Antibiotika erhielt. In seinen Online-Posts, die der 46-Jährige seinen Anwälten diktiert und von seinem Team im Exil veröffentlichen lässt, gibt er sich trotz seiner düsteren Situation oft fröhlich und sarkastisch. Kürzlich schrieb er: „Neujahr im Schiso ist wie jeder andere Tag: Aufstehen um fünf und schlafen gehen um 21 Uhr. Zum ersten Mal seit ich sechs war, habe ich also die ganze Silvesternacht geschlafen.“


Hatten Sie eine glückliche Kindheit?
Ja. Ich liebte meine Eltern und meinen Bruder. Der Familienerzählung nach liebte auch er mich sehr – bis ich sieben war. Dann kam er in die Pubertät und verhaute mich!

Was verband Sie?
Filme. Wir hatten VHS-Kassetten, die wir uns wieder und wieder zusammen ansahen: „Die nackte Kanone“, „Die Addams Family“, „Terminator 2“, „Trainspotting“, einen Film namens „Freak“… Wir reden immer noch davon in unseren Briefen.

Es gab nie explizite Erziehung im Sinne von: Alexej, Oleg, setzt euch aufs Sofa, hier sind die Regeln fürs Leben. Unsere Eltern lebten uns Ehrlichkeit vor.

Oleg Nawalny, Jahrgang 1983, über seine Kindheit

Wie würden Sie Ihr Elternhaus beschreiben?
Es gab nie explizite Erziehung im Sinne von: Alexej, Oleg, setzt euch aufs Sofa, hier sind die Regeln fürs Leben. Wir sahen unseren Eltern eher zu und kopierten sie. Unsere Eltern lebten uns Ehrlichkeit vor. Unser Vater war beim Militär, aber er war gegen den Krieg in Afghanistan. In den 90ern herrschte dann Chaos in Russland, jeder konnte sich im Zuge der Privatisierung bereichern, auch unsere Eltern hätten das gekonnt. Aber sie bauten ganz legal eine kleine Möbelfirma auf. Mein erster Job, mit 12 Jahren, war es, die Holzsprossen zu reinigen, aus denen Körbe gewoben wurden.

War Politik zu Hause präsent?
Ja, die Nachrichten liefen immer im Hintergrund. Wir wohnten in der Armeestadt Kalininez, unser Haus war 300 Meter von einer Kaserne entfernt. Zu meinen lebhaftesten Erinnerungen gehört, dass die Panzer, die 1991 und 1993 nach Moskau fuhren, um dort die Unruhen zu unterdrücken, aus Kalininez kamen. Erst waren sie gegen Jelzin, dann für ihn. Es fuhren endlose Panzerkolonnen, Scharfschützen liefen durch die Stadt.

Später ist Ihr Bruder Politiker geworden, Sie nicht.
Ich habe es auch nie versucht.

Aber das politische System Russlands zwingt Sie, Aktivist zu sein?
Ich bin kein Aktivist. Zumal ich nichts Neues beizutragen habe. Mich behandeln ohnehin alle, als wäre ich ein halber Alexej. Aber wenn ich der Anti-Korruptions-Stiftung mal organisatorisch helfen kann, tue ich das. Ansonsten bin ich nicht politisch aktiv.

Alexej Nawalny verbüßt in Russland eine Haftstrafe von neuneinhalb Jahren. Bei Gerichtsterminen ist er meist per Video zugeschaltet.
Alexej Nawalny verbüßt in Russland eine Haftstrafe von neuneinhalb Jahren. Bei Gerichtsterminen ist er meist per Video zugeschaltet.

© Alexander Zemlianichenko/AP/dpa

Womit beschäftigen Sie sich aktuell?
Ich bin Projektmanager. Leider darf ich nicht über die Projekte sprechen, im weitesten Sinne geht es um Krisenmanagement.

Können Sie sagen, wo Sie wohnen?
Ungern. Ich kann sagen, dass ich im Ausland lebe.

Was ich nicht glaube, ist, dass Alexej morgen freikommt, alles plötzlich gut wird und Putin in der Hölle schmort.

Oleg Nawalny

Wie erklären Sie Ihren beiden Kindern, die neun und elf Jahre alt sind, dass sie nicht in Russland leben können?
Tun sie doch. Sie leben in Russland bei ihrer Mutter. Leider. Wir sind geschieden. Das letzte Mal habe ich meine Kinder vor einem Jahr gesehen. Aber voraussichtlich besuchen sie mich im Frühjahr.

Vermissen Sie Russland?
Ich gehöre nicht zu denjenigen, die im Exil nostalgisch nach russischen Birkenwäldern schmachten. Ich bin da ganz entspannt, auch weil ich mir sicher bin, dass ich eines Tages zurückkehren werde.

Maria Pewtschich, Investigativchefin bei der Stiftung Ihres Bruders, sagte neulich in einem Interview, Putin tue stets, was am bequemsten sei, und womöglich komme der Tag, an dem es für ihn bequem wäre, Alexej Nawalny freizulassen. Wie könnte ein solches Szenario aussehen?
Ganz ehrlich, ich halte Putin für einen Idioten. Alles, was er tut, ist hirnlos und beliebig. Ich kann mir nicht vorstellen, worüber dieser alte Mann sich seinen eh schon kaputten Kopf zerbricht.

Ich will meine Unterstützung für die Ukrainer kundtun sowie meine Bewunderung für ihre Standhaftigkeit. Ich bin überzeugt, dass sie gewinnen werden.

Über Russlands Angriffskrieg

Ist der beste Weg zu Alexejs Freiheit nicht, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnt und Putin gestürzt wird?
Es gibt mehrere Szenarien für die Freilassung meines Bruders. Ich maße mir nicht an, zu beurteilen, welches besser oder schlechter wäre. Ich will nur, dass eines von ihnen eintritt.

Was würde sich dann in Russland verändern?
Das Leben würde sich zum Positiven wenden – für alle Menschen in Russland und der Welt. Was ich nicht glaube, ist, dass Alexej morgen freikommt, alles plötzlich gut wird und Putin in der Hölle schmort. Dennoch: Alexej ist für viele Russen im In- und Ausland eine treibende Kraft. Und nur die Russen selbst können für Veränderung im Land sorgen.

Ukrainische Aktivisten kritisieren, Ihre Bewegung stehe im russischen Angriffskrieg gegen ihr Land nicht entschlossen genug auf ihrer Seite. Alexej Nawalny hat die Invasion zwar heftig verurteilt, aber immer wieder sind ältere Aussagen von ihm zur Krim Thema. Nach der Annexion 2014 sagte er, die Halbinsel sei „kein Wurstbrot, das man hin und herreichen könne“…


„Nein, sorry.“ Kira Jarmysch, die Sprecherin von Alexej Nawalny, unterbricht energisch das Gespräch. Erstens könne Oleg Nawalny, der kein Mitarbeiter der Anti-Korruptions-Stiftung sei, nicht für die Organisation sprechen. Zweitens wolle sie klarstellen, dass Nawalny die Annexion der Krim verurteilt und auch als solche bezeichnet habe – im Gegensatz zur russischen Führung, die von „Rückholung“ spricht.

„Alexej hat nicht gesagt, dass er die Krim zurückgeben würde oder nicht“, betont Jarmysch. Er habe sich für faire Referenden unter internationaler Aufsicht ausgesprochen, bei der die Bewohner der Krim selbst entscheiden sollten, zu welchem Land sie gehören wollen. Das Wurstbrot-Zitat meine, dass es bei der Krim eben nicht nur um ein Territorium gehe, sondern um die Menschen, die dort leben. Ihren Willen gelte es, unter demokratischen Bedingungen herauszufinden.


Dafür muss die Krim befreit werden. Oder, Herr Nawalny?
Das ist das Wichtigste. Und dann kann man die Leute fragen, was sie wollen.

Haben Sie eine Botschaft an die Menschen in der Ukraine?
Ich will meine Unterstützung für die Ukrainer kundtun sowie meine Bewunderung für ihre Standhaftigkeit. Ich bin überzeugt, dass sie gewinnen werden.

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