zum Hauptinhalt
Gedenken an die Opfer des Anschlags in Bratislava.

© AFP / VLADIMIR SIMICEK

Nach Bratislava: Wie es zum queerfeindlichen Attentat in der Slowakei kam

Ein radikalisierter Attentäter ermordet in Bratislava zwei queere Menschen. Der Anschlag geschah nicht von ungefähr: Seit langem wird in der Slowakei LGBTIQ-feindliche Stimmung gemacht. Ein Gastbeitrag.

Von Michal Hvorecky

Matúš Horváth war 23 Jahre und studierte seit September wieder Chinesisch an der Comenius-Universität in Bratislava. Im Sommer 2023 wollte er seinen Bachelor-Abschluss machen. Als Halbwaise stammte er aus armen Verhältnissen, und sein Geld verdiente er im Tepláreň, der einzigen queeren Bar in der slowakischen Hauptstadt. Er liebte Comics und Anime und half als Freiwilliger bei der Vorbereitung der jährlichen Fan-Convention.

Juraj Vankulič war 27, nicht-binär, stammte aus Žilina im Nordwesten des Landes und arbeitete schon mehr als fünf Jahren als Visual Merchandiser bei einer berühmten Modemarke.

Juraj Vankulič liebte Tanz und Musik, die kreativen Outfits wurden in der schwulen Community legendär. Jeden Tag besuchte Juraj Vankulič das Tepláreň, den sicheren Ort und wichtigen Safe Space in Zámocká 30 (Schlossstraße) unweit der Pressburger Burg am linken Donauufer.

Juraj K. war 19 Jahre und besuchte eine Eliteschule für talentierte Schüler in der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Sein Englisch war akzentfrei und er nahm an vielen Klassenwettbewerben teil.

Doch seit zwei, drei Jahren merkten die Lehrerinnen, dass sich der einsame Junge veränderte, so wird es jetzt beschrieben. Auf Kritik reagierte er aggressiv, er hatte kaum Freunde, statt mit Gleichaltrigen verbrachte er immer mehr Zeit auf den unregulierten Diskussionsforen 4chan, 8chan und Telegram. Die lockeren Regeln ermöglichen dort Rechtsextremen einen intensiven Austausch und die Verbreitung von besonders radikalen und menschenfeindlichen Inhalten. 

Ein 65-seitiges Manifest des Täters

Die Lehrkräfte suchten mehrmals den Kontakt zu Jurajs Eltern und boten Hilfe sowie psychologische Beratung an, erfolglos. Kein Wunder, denn Jurajs Vater kandierte für das slowakische Parlament auf der Liste der neofaschistischen Partei Vlasť (Heimat), und mehrere Familienmitglieder verbreiteten auf sozialen Netzwerken regelmäßig rechtsextreme Botschaften.

Juraj K. schrieb ein 65-seitiges, kaum lesbares Manifest mit dem Titel „Ruf zu den Waffen“. Antisemitische, homophobe und xenophobe Motive mischte er mit abstrusen Verschwörungstheorien. Die Menschheit, so Juraj K., befinde sich in einem Existenzkampf von beispielloser Bedeutung, um die traditionellen Werte von Nation, Staat, Religion und Familie zu verteidigen, um demografischen Abstieg, moralische Zersetzung und politische Desintegration zu verhindern.

Er drohte mit einem neuen Holocaust. Er bewunderte Brenton Tarrant, der Moscheen in Neuseeland angegriffen hat, und John Earnest, der die Synagoge im kalifornischen Poway attackierte. Sowohl Tarrant als auch Earnest verfassten ähnliche Manifeste.

Am Dienstag, den 11. Oktober 2022, schrieb Juraj K., dass er sich bereits entschieden habe. Er wolle die alte Welt, die ihn so enttäuscht hat, eigenhändig verändern. Zu diesem Zeitpunkt hatte er nur einen einzigen Follower auf Twitter.

Polizei an dem Abend in der Straße des Tepláreň, als das Attentat geschah.

© AFP / VLADIMIR SIMICEK

Am Mittwochabend wartete Juraj K. vor dem Tepláreň. Mit Vaters Pistole richtete er Matúš Horváth und Juraj Vankulič kaltblütig hin, eine junge Frau verletzte er schwer. Acht Schüsse fielen. Matúš Horváth und Juraj Vankulič hatten kurz davor noch geplaudert und eine Limonade gemeinsam getrunken.

Der Killer postete um 19 Uhr 39 die erste Nachricht über seine Attacke auf Twitter. Zehn Minuten später meldete die slowakische Polizei die brutale Schießerei auf Facebook: Ein beispielloser Terrorakt in Bratislava!

Den Doppelmord hatte Juraj K. auf Sozialen Medien mit Fotos und Kurznachrichten dokumentiert (später wurden die Accounts gelöscht). Die Polizei fahndete da schon nach ihm. Auch ein Hubschrauber wurde auf der Jagd eingesetzt. „Die Bullen sind wahrscheinlich inkompetent“, spottete der Angreifer fünf Stunden nach der Tat auf seinem Twitter-Account. Juraj K. bekannte sich indirekt auch zum Anschlag. „Ich bereue nichts, ist das nicht komisch?“ fragte er.

Im nächsten Beitrag fügte er die Hashtags gaybar, Bratislava und HateCrime hinzu. Am frühen Morgen richtete dann der Täter, der auch die Jüdische Gemeinde angreifen und den Premierminister ermorden wollte, die Waffe gegen sich selbst.

Die Donaumetropole verlor zwei freie und kluge junge queere Menschen, die ihr ganzes Leben vor sich hatten. Sie haben eine schreckliche Lücke hinterlassen. Sie wurden Opfer eines brutalen extremistischen Mordes. Die Tat war homophob und antisemitisch motiviert, ein Anschlag auf die Freiheit und die demokratischen Werte, die in Mitteleuropa ernsthaft bedroht sind – der Trend zur Autokratisierung in der Region nimmt weiter zu.

Mahnwache vor dem Tepláreň am Tag nach dem Anschlag.

© AFP / VLADIMIR SIMICEK

Die Gewalt fängt in der Sprache an. Queerfeindliche Rhetorik ist in der Slowakei leider alltäglich. Politiker haben diese immer wieder genutzt, um die Stimmen von Wählern zu gewinnen. Nationalratssprecher Boris Kollár sagte, queere Menschen „gehören ins Krankenhaus“. Finanzminister Igor Matovič sagte in diesem Jahr, Journalisten hätten es auf ihn abgesehen, weil er „nicht LGBTI-orientiert“ sei. In den digitalen Medien findet das einen enormen Widerhall.

Die ungeheuerlichen Wahnvorstellungen des Täters Juraj K. entsprechen den bekannten Kreml-Narrativen von einem verrotteten, dekadenten Westen und einer gescheiterten liberalen Demokratie. Sie verweben rassistische Verschwörungstheorien über eine globale Übermacht von Juden und Schwulen, die als Feinde des Volkes bezeichnet werden. Diese Fiktionen sind äußerst gefährlich, und in der Slowakei leider ständig im Netz, im Parlament sowie in Kirchen verbreitet.

Schritt für Schritt schränkte das Land Rechte von Minderheiten ein

Besonders im Osten Europas schlägt Schwulen und Lesben viel Hass entgegen. Die slowakische Regierung sorgt schon seit Jahren mit einer homo- und transfeindlichen Politik für Aufsehen. Schritt für Schritt schränkte das Land die Rechte von Minderheiten ein.

Anders als in Tschechien dürfen in der Slowakischen Republik Schwule und Lesben ihre Beziehung nicht offiziell anerkennen lassen. Registrierte Partnerschaften sind weiterhin nicht in Sicht, von der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare oder von der Adoption von Kindern ganz zu schweigen. Der umstrittene katholischer Priester Marián Kuffa nannte 2015 Homosexuelle in einem viralen Video „schlimmer als Mörder“.

Jahrzehntelanger Hass von einem Großteil des rechten politischen Spektrums

Die meisten Regierungsmitglieder haben es nicht einmal gewagt, nach dem Doppelmord an Matúš Horváth und Juraj Vankulič das Wort „schwul“ laut auszusprechen. Viele Menschen glauben den Massenmedien, die LGBTIQ-Personen regelmäßig als Monster darstellen. Der Staat stützte oftmals die unzutreffende und diskriminierende Ansicht, sexuelle Minderheiten bedrohten Tradition und Familien.

Der jahrzehntelange Hass geht von einem Großteil des rechten politischen Spektrums aus, von vielen Kirchen sowie von den konservativen und rechtsextremen Medien. In diesem Klima war es eine besondere Herausforderung, das Tepláreň zu betreiben. Dennoch wurde der beliebte Treffpunkt selbstverständlicher Teil der lebendigen und bunten Stadtgesellschaft.

Doch das brutale Verbrechen verändert viel. Der Besitzer Roman Samotný wird das Tepláreň aus Sicherheitsgründen höchstwahrscheinlich nicht wieder öffnen. Zehntausende erwiesen den beiden Ermordeten am Freitag auf Zámocká die letzte Ehre. Auch Premierminister Heger nahm auf der Trauerfeier in dieser alten, stolzen, freien Stadt teil.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Zum allerersten Mal wehte eine Regenbogenfahne am Mast vor dem Grassalkovich Palais, dem Sitz der liberalen Präsidentin Zuzana Čaputová. Sie ist eine Ausnahmeerscheinung und geht aktiv gegen Queerfeindlichkeit vor.

Unsere queeren Mitmenschen werden sich jetzt sicherlich mit noch mehr Angst auseinandersetzen müssen. Ich lebe seit Mittwoch in einem unsicheren Staat.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false