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Alice (Petra Kuss) schreibt Rezepte auf.

© Arte / Foto: Andrea Oster

„So kocht man in Wien!“: Mehr als Mundraub

Wie die Nazis geistiges Eigentum „arisierten“: Doku über den Fall der Wiener Köchin Alice Urbach

Bei den Nazis wurde auch der Speiseplan „arisiert“. Das „Rothschild-Omelette“ und die „Jaffa-Torte“ wurden 1938 bei der Neuauflage des beliebten Kochbuchs „So kocht man in Wien!“ gestrichen. Was auch geändert wurde: der Name der Autorin, denn Alice Urbach war Jüdin. Sie war nach dem „Anschluss“ Österreichs ans deutsche Reich genötigt worden, alle Rechte abzutreten. Stattdessen war nun angeblich ein Autor namens Rudolf Rösch der geistige Urheber des weitgehend identischen Werks. Nach dem Krieg bemühte sich Alice Urbach beim deutsch-schweizerischen Ernst-Reinhardt-Verlag vergeblich, die Urheberrechte zurückzuerhalten.

Enkelin Karina Urbach recherchierte die Geschichte des Kochbuchs

Das änderte sich erst lange nach ihrem Tod im Jahr 1983. Nachdem Alices Enkelin, die Historikerin Karina Urbach, die Geschichte recherchiert und 2020 in „Das Buch Alice“ (Ullstein) veröffentlicht hatte, entschuldigte sich der Ernst-Reinhardt-Verlag und druckte „eine symbolische und unverkäufliche Neuauflage von 100 Exemplaren“, wie Karina Urbach in der Fernsehdokumentation „Alices Buch“ erklärt. Endlich steht wieder der Name der eigentlichen Urheberin auf dem Buchtitel, und die Rechte wurden an Karina und eine zweite, in den USA lebende Enkelin übertragen.

Der ZDF/Arte-Film von Andrea Oster hat also „eine Art Happy End“ zu bieten, wie Karina Urbach sagt, und geht somit ein Stück über den bekannten Inhalt des erfolgreichen, in fünf Sprachen übersetzten Sachbuchs hinaus. Die Enkelin, Autorin und Historikerin ist hier eine Mischung aus TV-Presenterin, Wissenschaftlerin und persönlich interessierter Angehöriger, an deren Fersen man sich als Zuschauer gerne heftet. Verständlich, dass sie nicht an Lobeshymnen auf die zweifellos beeindruckende Großmutter spart, die in den 1920er Jahren als alleinerziehende Mutter eine Kochschule gründete und noch als 95-Jährige in US-Kochshows zu Gast war. Die Dramaturgie, die behauptet, die Kamera sei von Beginn der Recherche an dabei gewesen, erscheint allerdings angesichts einer bereits zwei Jahre zurückliegenden Buchveröffentlichung etwas fragwürdig.

Davon abgesehen erzählt Andrea Oster eine besondere Familiengeschichte, die auch den Blick auf einen nicht ausreichend erforschten Aspekt der Nazi-Diktatur lenkt. Deren Terror bestand aus dem Raub nicht nur des materiellen, sondern auch des geistigen Eigentums ihrer Opfer. Karina Urbach spricht im Film mit dem Berliner Medizinhistoriker Peter Voswinckel, der einen weiteren Fall erforscht hat: Der Schriftsteller und Arzt Josef Löbel hatte 1930 „Knaurs Gesundheits-Lexikon“ geschrieben. Zehn Jahre später erschien das Lexikon, obwohl „zu 98 Prozent identisch“ (Voswinckel), unter einem anderen Namen. Aus dem „Handbuch“ war überdies ein „Führer“ geworden. Josef Löbel nahm sich im Mai 1942 in Prag das Leben.

Alice Urbach veröffentlichte und ihre „vielen Reisen ins Absurde“, wie Enkelin Karina sagt, beginnend im alten Wien, das hier in einigen Filmaufnahmen zu sehen ist. Alice Urbach, geborene Mayer im noblen Vorort Döbling, wächst in der Familie eines Textil-Unternehmers auf. Während die Schwester Helene studieren darf, ist für Alice eine standesgemäße Ehe vorgesehen. Mit Maximilian Urbach hat sie zwei Söhne, doch weil der Gatte früh stirbt, muss sie sich in der Nachkriegszeit eine eigene Existenz aufbauen. Alice Urbach, die gerne in der Liga der „weltberühmten österreichischen Tapisserie“ (Karina Urbach) mitspielen möchte, gründet eine Kochschule, hält Vorträge und „Kochkunstschauen“ ab und 1935 den Bestseller „So kocht man in Wien!“.

Sie überlebt die Shoah, weil sie eine Anstellung als Köchin einer exzentrischen Lady auf Grantham Castle in England findet und noch rechtzeitig aus Wien ausreisen kann. Im Krieg leitet sie ein Kinderheim, in dem 24 jüdische Mädchen aus Österreich und Deutschland untergebracht sind. 1946 wandert sie in die USA aus. Drei Jahre später besucht sie wieder ihre Heimatstadt Wien – und sieht dort in einer Buchhandlung ihr eigenes Kochbuch liegen. Autor: Rudolf Rösch, dessen Identität bis heute ungeklärt ist. 18 Briefe schrieb Alice Urbach in den folgenden Jahren an den Schweizer Verleger Hermann Jungck. Zuerst teilte der Verlag mit, es gebe keine Unterlagen aus der Zeit mehr. Nach der Buchveröffentlichung erhielt Karina Urbach dann doch die Briefe. „Der Verlag findet plötzlich sein Archiv“, kommentiert sie spöttisch.

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