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Der „Tatort“ verliert an Bindungskraft

© dpa/Tobias Hase

Vorbei mit den Rekordquoten: Warum noch Fernsehen?

Die Nachfrage nach dem „Tatort“ sinkt wie die Reichweiten des Mediums insgesamt schwächeln.

Gregor Tholl, ein ausgewiesener Kenner der Fernsehszene, zieht eine düstere Bilanz: Der „Tatort“, Deutschlands populärste Fernsehreihe „schwächelt: Die durchschnittliche Zuschauerzahl des ARD-Quotenhits ,Tatort‘ ist dieses Jahr bislang auffällig zurückgegangen“.  Im Schnitt hätten nur 8,7 Millionen Menschen die Erstausstrahlungen im Ersten zwischen Januar und Ende Mai gesehen. Der dpa-Autor beruft sich dabei auf Zahlen der ARD-Programmdirektion. Damit sei die Reichweite im Vergleich zum selben Zeitraum 2022 um mehr als eine halbe Million gesunken. Von Neujahr bis Ende Mai 2021 - einem Höhepunkt der Corona-Krise - waren im Schnitt bei jeder Folge sogar noch 9,8 Millionen dabei.

Zwei Filme mit über zehn Millionen

Von den 20 bisherigen „Tatorten“ 2023 kamen lediglich zwei Filme über zehn Millionen TV-Zuschauer: neben dem Münster-Film „MagicMom“ vom 5. März war dies noch der Kölner Krimi „Abbruchkante“ vom 26. März. Vier der bisherigen „Tatort“-Krimis landeten dieses Jahr sogar unter der Sieben-Millionen-Grenze: neben dem Wiener Krimi „Azra“ vom 29. Mai war dies zum Beispiel noch der Zürcher Film „Seilschaft“ vom 30. April, auch die neue RBB-Ermittlerin Susanne Bonard, gespielt von Corinna Harfouch, startete unterdurchschnittlich.

Gregor Tholl zieht den Schluss: „Diese Zeit des Hypes, als jeder ,Tatort‘ Gesprächsstoff und jede Personalie innerhalb des Sonntagskrimikosmos großes Thema zu sein schien, ist wohl endgültig vorbei.“ Wohl richtig in Zeiten, in denen jedwede Wahrheit nicht länger zwischen den Polen Plus und Minus gesucht und gefunden wird, sondern nur noch bei Plus oder Minus.

An den Werten für den ARD-Paradekrimi wird jedenfalls gerne festgemacht, wie es um das Fernsehen und seine Nutzung steht. Wenn jetzt noch die privaten Sender klagen, dass die Werbeeinahmen bedenklich nach unten zeigen, dann leuchten die Krisenzeiten hell und grell: Warum noch Fernsehen?

Diese Zeit des Hypes, als jeder „Tatort“ Gesprächsstoff und jede Personalie innerhalb des Sonntagskrimikosmos großes Thema zu sein schien, ist wohl endgültig vorbei.

Gregor Tholl

Darum: Die Corona-Pandemie hatte ja viele Wirkungen und Nebenwirkungen. Eine davon war, wenig überraschend, dass die individuelle Fernsehnutzung angeschwollen war: 213 Minuten im Jahr 2021. Zu Hause fühlt(e) sich jeder und jede unbeobachtet, da kann geglotzt werden, bis die Augen eckig sind. Jetzt, nach der Pandemie, sinkt die tägliche Fernsehzeit wieder, auf 195 Minuten im Jahr 2022. Ganz besonders bekommen es die klassischen Fernsehsender zu spüren, gleich ob es um ihr linear ausgestrahltes oder ihr nonlineares Programm geht.

Die Mediatheken fangen jedenfalls die Verluste nicht auf, wie nicht nur die ARD-Medienforschung festgestellt hat. Was die Nutzung des Bewegtbildes zumindest stabilisiert, das sind die Streamingdienste. Die tägliche Nutzungsdauer für das Bewegtbild lag 2022 bei 214 Minuten, 2021 acht Minuten höher.

Gut, schlecht, normal?

Auch wenn die Zahlen schwanken (und sich die Streamingdienste der Fernsehmessung noch verweigern) und jetzt leicht nach unten gehen, bleiben sie ja hoch. Ist das jetzt gut, schlecht oder normal? Schauen wir in zu viele Geräte, starren wir auf zu viele Monitore? Klar, der Nachbar nebenan schaut immer zu viel und immer zu viel vom Schlechten. Unsereins sucht Bildung und Hochkultur, also liegt Arte auf der Fernbedienungstaste 1.

Ist natürlich knapp neben der Wahrheit, tatsächlich amüsieren wir uns mit dem Bewegtbild gerne unter Niveau. Ausreden sind immer bei der Hand: Müdigkeit, Stress, Erschöpfung, als geplagter Mensch braucht es Erholung und Entspannung.

Oder – und jetzt geht dieser Text steil, sehr steil sogar – sei an den Essay von Albert Camus „Der Mythos des Sisyphus“ erinnert, der auch für den Fernsehzuschauer Erkenntnis bereithält: Dem Fernsehen sei kein Sinn abzugewinnen, dennoch strebe der Fernsehzuschauer ständig nach Sinn. Der Zuschauer als Sisyphus, also der Held, macht sein Schicksal zum Geschick, ja Gewinn, indem er diese Absurdität annimmt. Gibt’s auch eine Nummer kleiner: Wir glotzen weiter.

Vielleicht sollte man sich diese Tiraden von zu viel Fernsehen in zu kurzer Zeit ersparen. Schlicht anerkennen, dass das Medium zugleich und sogleich ein Sedativum und ein Aufputschmittel ist.

Ich fernsehe, also bin ich? Das greift jetzt zu weit, räumt dem Medium einen Grad an Organisation, Bedeutung und Sinnhaftigkeit ein, der die Beziehung in die schiere Abhängigkeit überführt. Nicht ich sehe fern, sondern ich werde ferngesehen, ich werde zum Fernseher.

Kein schöner Gedanke, so ein Kontrollverlust, der wie die Aufgabe der eigenen Souveränität klingt. Besser: Ich zappe nicht, ich wähle aus, ich schalte aus. Meine Fernsehnutzung wird souverän, virtuos, weniger wird mehr, mein schlaues Fernsehen macht mich schlauer.

Frieden mit dem Fernsehen

Genug gegrübelt, es darf zum Friedensschluss mit dem Fernsehen kommen. Und zum Erstaunen darüber, dass 8,7 Millionen Deutsche am Sonntagabend den „Tatort“ einschalten. Sind solche Zahlen kein Hype mehr, ist es nicht vielmehr erstaunlich, wie sich der Krimi vor dem Hintergrund der  veränderten Bewegtbild-Nutzung in der hohen Millionenzahl hält? Der Blick zurück illustriert nur eine Vergangenheit, die keine Gegenwart und schon gar keine Zukunft mehr hat.

Das Fernsehen braucht schlichtweg neue, angepasste Parameter für das, was seinen Erfolg und seinen Misserfolg ausmacht.  

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