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Konkurrenz um begehrte Studienplätze zwischen Minderheiten. Amerikaner mit Wurzeln in Asien sehen sich durch die Bevorzugung von Afroamerikanern diskriminiert.

© REUTERS/Evelyn Hockstein

Bilanz des US Supreme Court 2023: Verbot der ausgleichenden Ungerechtigkeit

Das Urteil zu „Affirmative Action“ ist kein Beleg für den angeblichen Durchmarsch konservativer Richter. Die Bevorzugung nach der Hautfarbe beim College-Zugang hat sich überlebt, weil sie ihr Ziel erreicht hat.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Mit mehreren Paukenschlägen haben die neun Obersten Richter der USA ihre Sitzungsperiode 2022/23 abgeschlossen. Besonderen Wirbel lösten drei Urteile aus den jüngsten zehn Tagen aus.

Dabei hatten die sechs konservativen Richter John Roberts, Samuel Alito, Amy Coney Barrett, Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh, Clarence Thomas jeweils ihre drei progressiven Kolleginnen Ketanji Brown Jackson, Elena Kagan und Sonia Sotomayor überstimmt.  

Der Supreme Court beendete nach 45 Jahren „Affirmative Action“, die Bevorzugung benachteiligter Minderheiten bei der Zuteilung begehrter Plätze an Bildungseinrichtungen. Davon hatten vor allem Afroamerikaner sowie Latinos profitiert.

College-Zulassung, Studienkredite, Hochzeitsservice

Das Nachsehen hatten Weiße und zunehmend auch Asiaten, die trotz besserer Noten nicht zum Zuge kamen. Denn ihre Quoten waren bereits mit gut benoteten Bewerbern gefüllt, die der Afroamerikaner und Latinos aber trotz schlechterer Noten noch nicht.

Die Obersten Richter lehnten auch den Beschluss der Biden-Regierung zur „Student Loan Forgiveness“ ab. Ex-Studenten, die heute weniger als 125.000 Dollar im Jahr verdienen, wären um je 10.000 bis 20.000 Dollar ihrer Schulden, die sie für Studiengebühren aufgenommen hatten, entlastet worden; das hätte 43 Millionen Menschen betroffen.

Für Joe Biden und die Demokraten sollte das Gesetz zu den großen Errungenschaften seiner Amtszeit gehören. Mit dem 400 Milliarden Dollar teuren Vorhaben überschreite der Präsident seine Machtbefugnisse, urteilten die Richter.

Dienstverweigerung bei Homo-Ehen

Drittens erlaubte der Supreme Court Webdesignern für Hochzeitsseiten, die sich auf ihre religiösen Grundsätze berufen hatten, dass sie ihre Dienste ausdrücklich nur Paaren anbieten, die eine klassische Ehe aus Mann und Frau eingehen wollen. Dies bedeute keine verfassungswidrige Diskriminierung homosexueller Paare.

In allen drei Fällen war die Empörung unter Demokraten groß – und bei den Republikanern umgekehrt die Zufriedenheit. Belegen die Urteile damit, dass der Supreme Court auf ähnliche Weise in zwei ideologische Lager geteilt ist wie die politische Szene und dass die Konservativen mit ihrer 6:3-Dominanz die rechtlichen Leitplanken der Gesellschaft nun sukzessive verschieben werden?

Genereller gefragt: Ist die progressive Ära seit den 1970er Jahren mit der kontinuierlichen Liberalisierung und wachsenden Toleranz gegenüber Minderheiten beendet?

Rechte sind öfter in der Minderheit als Linke

Einige Berichterstatter mahnen zur Vorsicht vor derart generalisierenden Betrachtungen. Statistisch sei die Supreme-Court-Saison 2022/23 moderater verlaufen als im Vorjahr. 2021/22 hatten die Konservativen die Progressiven 14 Mal mit 6 zu 3 überstimmt, darunter bei der Kehrtwende in Sachen Abtreibungsrecht. Jetzt kam es nur fünf Mal zu solchen Lager-Urteilen.

Zudem hätten sich die beiden konservativsten Richter, Samuel Alito und Clarence Thomas, öfter in einer Minderheitsposition befunden als die beiden progressivsten Richterinnen, Ketanji Brown Jackson und Sonia Sotomayor.

Konservative Zumutungen abgewehrt

Gemeinsam mit den moderat konservativen Richtern haben die drei Richterinnen, die von demokratischen Präsidenten ernannt wurden, gravierende Änderungen an der Rechtsordnung für verfassungswidrig erklärt, die Republikaner eingeleitet hatten. Dazu gehören Eingriffe in das Wahlrecht sowie Einteilungen der Wahlkreise nach der Hauptfarbe, Einschränkungen des Indian Child Welfare Act und die „Independent State Legislature Theory“, nach der der gesetzgeberische Wille der Parlamente der einzelnen Bundesstaaten über der Bundesverfassung stehe.

Ist der Supreme Court also neutraler als sein Ruf?

Zweierlei kann man gegen diese nach Verständnis suchende Einordnung der Urteile des Supreme Court einwenden. Erstens haben die Entscheidungen, die man als Sieg der Progressiven interpretieren kann, nur das bestehende Recht verteidigt; sie bedeuten keinen Zuwachs an Liberalisierung und Toleranz.

Terraingewinne für die Rechten

Die Konservativen hingegen haben mit ihren Siegen Terraingewinne erzielt. So bleibt, zweitens, unter dem Strich, dass sich der Rechtsrahmen in die konservative Richtung verschiebt.

Wer mag, kann in den aufwühlenden Urteilen aber auch eine Korrektur sehen, die soziale Veränderungen widerspiegelt, zumindest in Teilen. Das wäre nicht per se illegitim. Wenn sich die gesellschaftliche Realität ändert, sollte die Rechtsprechung darauf reagieren.

Ein Beispiel, an dem sich das nachvollziehen lässt, ist die Entwicklung bei der Beurteilung von Affirmative Action. Sie wurde eingeführt, um eine offenkundige Benachteiligung – damals der Afroamerikaner – beim Zugang zum Bildungssystem auszugleichen.

Zweierlei Diskriminierung damals und heute

Ihre Benachteiligung oder auch Diskriminierung war so offenkundig und groß, dass der Supreme Court dies als verfassungswidrig einstufte und gezielte Bevorzugung nach der Hautfarbe für rechtmäßig erklärte.

45 Jahre später führt die Bevorzugung der Einen de facto zu einer Benachteiligung der Anderen. Eine beträchtliche Zahl von Weißen und Asiaten wird trotz guter Noten vom Zugang zu den begehrtesten Colleges ausgeschlossen, da deren Leitungen sich weiter vorbehalten, „race“ zu einem Kriterium zu machen. Das hat der Supreme Court nun verboten. Die gesellschaftliche Realität habe sich verändert, „Affirmative Action“ habe ihren Zweck weitgehend erfüllt.

Dieser Trend hatte sich bereits 2007 in einem Urteil des Supreme Court zum Zugang zu Schulen abgezeichnet. Obwohl der damals noch mehr progressive Mitglieder hatte als heute, urteilte die damalige Mehrheit, „Rasse“ sei kein geeignetes Kriterium mehr. Schulen und Universitäten müssten einen neutraleren Maßstab finden als die Hautfarbe, um Benachteiligung auszugleichen.

Das könne, zum Beispiel, das Einkommen der Eltern sein. So betrachtet, ist das Ende der bisherigen „Affirmative Action“ nicht notwendig das Ende der Förderung Benachteiligter. Wahrscheinlich wird ein Großteil der Schüler und Studenten, die bisher bevorzugten Zugang erhielten, auch künftig darauf rechnen können, wenn das Kriterium dafür von „Rasse“ zur sozioökonomischen Schwäche der Eltern wechselt.

Ähnlich pragmatisch ließe sich auch mit der Frage der Dienstleistungen für Heiratswillige umgehen. Auch da hat sich die gesellschaftliche Realität verändert. Die LGBTQI-Community findet heute viel mehr Angebote für ihre Bedürfnisse quer durch die USA als vor drei, vier Jahrzehnten. Und wer möchte bei einem so schönen Anlass wie einer Hochzeit Helfer haben, die strikt gegen diese Verbindung sind?

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