zum Hauptinhalt
Protest gegen die nächste Regierung Netanjahu vor der Knesset, dem israelischen Parlament, vergangene Woche.

© Getty Images/Saeed Qaq

Demokratie in Israel: Nur noch die Mehrheit zählt

Wenn Netanjahus neue Regierung ihre Pläne umsetzt, werden Menschenrechte bald von Mehrheiten abhängig sein. Israels heikle politische Struktur macht das möglich. Ein Gastbeitrag.

Seit in den letzten Jahren in etlichen Ländern der Populismus aufgekommen ist, werden wir Zeugen eines Trends „demokratischer Erosion“. Demokratien sterben nicht mehr plötzlich. Sie werden langsam ausgehöhlt – manchmal, ohne dass wir es merken.

Sind populistische Politiker erst einmal an der Macht, nutzen sie die Verfassung als Mittel, um ihre Ziele durchzusetzen und demokratische Werte, Mechanismen und staatliche Institutionen zu untergraben – manchmal schrittweise durch Gesetzesänderungen, die für sich genommen harmlos erscheinen mögen. Aber entscheidend ist die Quantität, die Anzahl der Änderungen.

Israel ist wegen der Struktur seiner Verfassung den Gefahren eines Demokratieabbaus viel stärker ausgesetzt als andere Demokratien. In jedem Land gibt es Mechanismen, die die politische Macht verteilen: eine verbindliche Verfassung, ein Zweikammer-System des Parlaments, das Vetorecht von Präsidenten gegen Gesetze, eine föderale Struktur, ein regionales Wahlsystem.

Die Pläne der neuen Regierung unter Benjamin Netanjahu zielen darauf ab, die Gerichte zu schwächen.

© dpa/Ilia Yefimovich

Manchmal wirken auch internationale Organisationen und Gerichte. Alle diese Instrumente ergeben ein System der gegenseitigen Kontrolle. Keines davon existiert in Israel.

Israel hat kein einziges offizielles Dokument namens Verfassung, und fast ein halbes Jahrhundert lang beruhte sein Rechtssystem auf dem Prinzip der Souveränität des Parlaments.

Statt der Verfassung ein Kompromiss – seit 1950

Die israelische Unabhängigkeitserklärung sah zwar vor, dass eine verfassunggebende Versammlung eine Verfassung verabschieden sollte. Doch die Beratungen darüber gerieten bald in eine Sackgasse.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

So einigte man sich 1950 auf einen Kompromiss, demzufolge Israel eine Verfassung „in Etappen“ einführen werde: eine Verfassung in Kapiteln, von denen jedes einzelne den Wert eines Verfassungsartikels haben sollte.

Seit den 1990er Jahren kann Israel als konstitutionelle Demokratie bezeichnet werden, nachdem 1992 zwei Artikel zu Menschenrechten verabschiedet wurden und 1995 ein Gerichtsurteil von großer Bedeutung erging. Die Grundrechte sind darin verankert, die Befugnisse des Gesetzgebers werden begrenzt, und die Gesetze unterliegen der Kontrolle durch die Gerichte.

Doch obwohl diese Grundgesetze Verfassungsrang genießen, können sie sehr leicht geändert werden.  Israelische Politiker können die Spielregeln der Verfassung, die Befugnisse der Gerichte oder sogar das Regierungssystem jederzeit mit einfacher Mehrheit in der Knesset ändern.

Regierung will Kontrollen untergraben

Die Knesset hat 120 Mitglieder, damit genügen 61 von ihnen, um Israels „Verfassung” zu ändern. 61 Sitze verschaffen also beinahe absolute Macht. Die einzige Instanz, die die Macht der Regierung und der Knesset einschränken kann, ist der Oberste Gerichtshof.

In den allermeisten Ländern schränkt eine Verfassung die gesetzgebende Macht der Mehrheit ein und schafft wirksame politische und rechtliche Mechanismen, um dies durchzusetzen. Nicht so in Israel.

Die Pläne der neuen Regierung zielen darauf ab, die gerichtliche Kontrolle zu untergraben und damit die Instrumente zur Kontrolle oder Überwachung der Regierung.

Eine der beabsichtigten Reformen besteht darin, eine „Außerkraftsetzungsklausel” in die Grundgesetze aufzunehmen. Sie würde es der Knesset möglich machen, Gesetze zu verabschieden, die gegen die Menschenrechte verstoßen, selbst wenn diese Gesetze vom Obersten Gerichtshof für verfassungswidrig erklärt würden.

Die Garantien haben Lücken

Die Menschenrechtsgarantien in den Grundgesetzen gelten nicht absolut. Die Knesset kann sie je nach Bedürfnissen des Staats oder den Rechten Dritter einschränken. Die Regeln dafür sind jedoch klar und in den Grundgesetzen selbst verankert:

„Die Rechte aus diesem Grundgesetz dürfen nur durch ein Gesetz eingeschränkt werden, das den Werten des Staates Israel entspricht, dessen Zweck angemessen ist und nicht über das erforderliche Maß hinausgeht.“

Was passiert folglich, wenn die Knesset ein Gesetz erlassen will, das ein Menschenrecht einschränkt, zum Beispiel das Recht auf Gleichheit, und wenn dieser Eingriff extrem und nicht verhältnismäßig ist? In diesem Fall wird das Gesetz für verfassungswidrig erklärt, und der Oberste Gerichtshof kann von seinem Recht Gebrauch machen, es zu überprüfen. (In fast 30 Jahren wurden nur etwa 20 Gesetze für verfassungswidrig erklärt, meist bestimmte Abschnitte darin.)

Die einzige Kontrollmöglichkeit wäre am Ende

Würde jedoch eine Außerkraftsetzungsklausel verabschiedet, dann könnte die Knesset ein Gesetz, das gegen Menschenrechte verstößt, wieder aktivieren, wenn die Mehrheit dies wünscht. Das würde es der Knesset möglich machen, „unsere“ Menschenrechte – die Rechte des israelischen Volkes – außer Kraft zu setzen.

Welche Gefahr und welch potenzieller Schaden dieser Vorschlag für Israels Verfassungsrecht bedeutet, ist nicht hoch genug zu veranschlagen. Demokratie ist mehr als die Herrschaft der Mehrheit. Demokratie ist auch ein wirksames Instrument zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte von Minderheiten.

Die Außerkraftsetzungsklausel würde die einzige Kontrolle zerstören, die wir derzeit gegen die Macht des Gesetzgebers haben, Gesetze zu erlassen, die die Menschenrechte beschneiden. Das bedeutet, dass deren Schutz vollständig von der Gnade der Mehrheit abhängig würde.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false