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Protest gegen den Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention in Istanbul

© Reuters/Murad Sezer

Zahl der Femizide in der Türkei steigt: Jeden Tag sterben fünf Frauen durch männliche Gewalt

Tödliche Gewalt gegen Frauen nimmt in der Türkei zu. Viele Morde werden vertuscht, sagen Frauenorganisationen. Sie machen die Regierung für die Lage mitverantwortlich.

„In diesem Land kannst du alles sein, nur keine Frau.“ In der Türkei, wo jeden Tag mindestens fünf Frauen durch männliche Gewalt getötet werden, fällt dieser Satz oft. Längst ist er zu einem politischen Slogan geworden, den viele Statistiken, Berichte und Namen belegen.

Alle kennen Namen wie Münevver Karabulut, die von ihrem Partner zerstückelt und in einem Müllsack auf die Straße geworfen wurde. Oder Özgecan Aslan, einer Studentin, die auf dem Heimweg von einem Busfahrer getötet wurde, nachdem er versucht hatte, sie zu vergewaltigen.

Nach Angaben der türkischen Plattform „We Will Stop Femicides“ wurden im vergangenen Jahr mindestens 334 Frauen durch männliche Gewalt ermordet, weitere 245 Frauen starben unter verdächtigen Umständen.

Die Morde werden vertuscht, indem man sie wie Selbstmorde aussehen lässt.

Fidan Ataselim, Generalsekretärin von „We Will Stop Femicides“

Allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres starben 101 Frauen, deren Todesursache bisher nicht geklärt ist. Fidan Ataselim, Generalsekretärin von „We Will Stop Femicides“, ist sich sicher: „ Die Morde werden vertuscht, indem man sie wie Selbstmorde aussehen lässt.“

Wirtschaftskrise verstärkt Abhängigkeiten der Frauen

Die Wirtschaftskrise in der Türkei verschlechtert nach Einschätzung der Stiftung für Frauensolidarität KADAV die Lage von Frauen noch weiter. Die hohe Inflation und Arbeitslosenquote sowie steigende Mieten, Rechnungen und Preise für Grundnahrungsmittel haben dazu geführt, dass Frauen, die eigentlich eine Scheidung erwägen, weiterhin bei ihren gewalttätigen Ehemännern bleiben.

Femizide, also die Ermordung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, sind ein globales politisches Problem. Für die Frauen in der Türkei bedeuten sie jedoch seit mehr als einem Jahrzehnt einen aktiven politischen Kampf. Denn sie leben seit zwanzig Jahren unter einer konservativen Regierung, die feministische Kräfte regelmäßig als Bedrohung der traditionellen Familienordnung öffentlich anprangert.

Austritt aus der Istanbul-Konvention

Die Regierung war bisher in ihren Maßnahmen zum Schutz der Frauen nicht nur sehr zurückhaltend; sie hat gar ein Signal zugunsten der Gewalt gesetzt: Vor zwei Jahren trat die Türkei aus der Istanbul-Konvention aus, einem menschenrechtsbasierten Übereinkommen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen.

30
Prozent der Todesfälle von Frauen in der Türkei bleiben ungeklärt.

Im Jahr 2012 war die Türkei das erste Land, das die Konvention unterzeichnet hatte. Sie bildete damals die Grundlage für das Gesetz zum Schutz der Familie und zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen, in der Türkei besser bekannt als Gesetz 6284.

Klagen blieben ohne Erfolg

Zehn Jahre später kündigte die Türkei als erster Unterzeichnerstaat per Präsidialdekret ihren Austritt aus der Konvention an. Nichtregierungsorganisationen, insbesondere Anwaltskammern und Frauenorganisationen, reichten beim Staatsrat, einem der obersten Gerichte der Türkei, Klagen ein und forderten die Aufhebung des Austrittsbeschlusses.

Die Entscheidung, die Konvention zu kündigen, löste in der gesamten Türkei Proteste aus. Bis heute ist die Rückkehr zur Konvention und die Wahrung des Frauenschutzgesetzes eine Hauptforderung von Frauenrechtsorganisationen im Land.

Viele ungeklärte Todesfälle von Frauen

Für die türkische Frauenrechtlerin und Rechtsanwältin Feyza Altun ist das Gesetz Nr. 6284 der letzte Rettungsanker der Frauen in der Türkei. „Präsident Erdogan ist mit Verweis auf dieses Gesetz aus der Istanbul-Konvention ausgestiegen und hat gesagt: Wir haben schon etwas, das besser ist. Aber jetzt ist genau das in Gefahr.“ Denn das Gesetz wird laut Frauenrechtsanwältinnen nicht genügend befolgt.

Vor drei Jahren häuften sich ungeklärte Todesfälle von Frauen, die tot im See gefunden wurden oder unter mysteriösen Umständen aus Hochhäusern stürzten.

Den Protesten dagegen hielt der damalige türkische Innenminister Süleyman Soylu entgegen: „Es gibt keine ungeklärten Morde an Frauen. Alle Frauenmorde werden nach dem Gesetz 6284 gründlich untersucht.“ Dabei gibt die Plattform „We Will Stop Femicides“ an, dass in der Regel rund 30 Prozent der Todesfälle unter Frauen unaufgeklärt seien.

Wir erleben oft, dass die Polizisten die Anzeige der Frauen nicht annehmen und versuchen, die Parteien zu versöhnen.

Feyza Altun, Rechtsanwältin aus Istanbul

Das Problem beginnt bereits vor dem Gerichtsverfahren, wenn Frauen bei der Polizei Anzeige wegen Belästigung oder Bedrohung durch männliche Familienmitglieder oder Ehepartner erstatten. „Wir erleben oft, dass die Polizisten die Anzeige der Frauen nicht annehmen und versuchen, die Parteien zu versöhnen“, sagt Altun.

Die ersten Anlaufstellen, an die sie die Frauen verweist, sind meist die Staatsanwaltschaft und Frauenorganisationen. „Ich denke, dass Polizisten und Staatsanwälte, die in der Türkei in diesem Bereich arbeiten, eine spezielle Ausbildung erhalten sollten“, sagt Altun. Frauen hätten generell mehr Glück, wenn sie auf Polizistinnen treffen.

Keine Unterstützungsmechanismen für Frauen

Auch Ilke Gökdemir, ehrenamtliche Mitarbeiterin der Frauenorganisation Mor Çatı, sieht das Grundproblem in fehlenden Unterstützungsmechanismen für Frauen, die Opfer von Gewalt sind.

Oft hänge es von der Initiative einzelner Mitarbeiter in den Einrichtungen und vom jeweiligen Polizeibeamten ab, den sie auf der Wache antreffen. Mor Çatı unterhält ein Solidaritätszentrum und ein Frauenhaus. „Dort lernen wir von den Frauen, die zu uns kommen, und entwickeln entsprechende Strategien, indem wir ihre Probleme und Bedürfnisse erkennen“, sagt Gökdemir.

Die Politik der Regierung wird immer konservativer und frauenfeindlicher.

Ilke Gökdemir, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der Frauenorganisation Mor Çatı 

In der Türkei gebe es zu wenig Frauenhäuser und zu wenig Personal in den bestehenden Einrichtungen, so Gökdemir. Sie führt dies vor allem auf das Fehlen einer umfassenden Gleichstellungspolitik zurück. „Die Politik der Regierung wird immer konservativer und frauenfeindlicher. Sie bewertet Frauen nur in ihrer Familienrolle, nicht aber als Individuen mit eigenen Rechten.“

Die Frauenbewegung, sagt Gökdemir, ist gerade deshalb eine der stärksten Oppositionsbewegungen. „Der Staat sollte mit den Frauenorganisationen in Kontakt stehen. Die Arbeit zur Wahrung von Frauenrechten sollte in einem ganzheitlichen System durchgeführt werden, in dem die Institutionen voneinander wissen und koordiniert werden.“

Morde an Frauen bleiben laut der Organisation Mor Çatı in der Türkei auffallend häufiger straffrei als Morde an Männern. Die Forderung der Frauenbewegung ist daher eine angemessene Bestrafung der Täter.

Frauenrechtsorganisationen sind sich einig, dass durch Straflosigkeit und Strafmilderung die Gewalt gegen Frauen fortbesteht und weiter zunimmt. Der Durchschnitt von fünf Femiziden pro Tag hält sich jedenfalls seit rund vier Jahren.

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