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Aufgrund der Streiks herrscht Chaos inmitten des Reiseverkehrs rund um die Feiertage.

© dpa/James Manning

Update

Streikserie in Großbritannien: „Rufen Sie nur dann die Notfallnummer, wenn Sie fast sterben“

Arbeitskampf im Vereinigten Königreich. Züge bleiben seit Monaten stehen, doch die konservative Regierung bleibt hart und hält am Sparzwang fest. Jetzt droht das Pflegepersonal mit erneuten Streiks: Knickt Premier Rishi Sunak ein?

Eigentlich wollte Rishi Sunak über die mangelnden Mathematikkenntnisse britischer Schulabgänger reden. Doch für den erst seit Ende Oktober amtierenden Premierminister geht es zu Jahresbeginn vor allem um die Autorität seiner konservativen Regierung.

Die Streikserie im öffentlichen Dienst reißt nicht ab, die Zustände im Gesundheitswesen NHS (National Health Service) haben Notstandscharakter. Bei einem seiner raren öffentlichen Auftritte gab sich der Regierungschef am Mittwoch hart: Weil die Inflationsbekämpfung höchste Priorität genieße, werde es keine Zugeständnisse an die Streikenden geben.

Der seit Monaten andauernde Ausstand bei der Eisenbahn hat zu Wochenbeginn die Rückkehr der Briten an ihre Arbeitsplätze nach den Feiertagen stark behindert. Am Dienstag verkehrten lediglich 20 Prozent der geplanten Züge. Die Vereinigung der privaten Eisenbahnbetreiber hatte schon vorab die Briten dazu aufgefordert, eine Reise gar nicht erst zu versuchen. Der Schienenverkehr dürfte bis zum Wochenende praktisch brachliegen.

Regierung will Streiks per Gesetz eingrenzen

Die britische Regierung will nun eine Mindestversorgung im Rettungsdienst und anderen wichtigen Bereichen sichern. Ein entsprechender Gesetzentwurf soll in den kommenden Wochen ins Parlament eingebracht werden.

Das Vorhaben soll dafür sorgen, dass auch während Streikaktionen immer eine Grundversorgung gewährleistet ist. Dabei geht es vor allem um Feuerwehr-, Krankenwagen- und Bahndienste. Es gelte eine Balance zwischen den Streikenden und dem Schutz der Öffentlichkeit vor unverhältnismäßigen Störungen wiederherzustellen, sagte Wirtschaftsminister Grant Shapps.

Keine Zugeständnisse in Sicht

Die Gewerkschaften RMT für Schaffner und Putzpersonal sowie Aslef für die Zugführer fordern größere Jobsicherheit sowie zweistellige Lohnzuwächse, um die erhebliche Teuerung auszugleichen. Diese lag der Statistikbehörde ONS zufolge im November bei 10,7 Prozent; Lebensmittelpreise stiegen um 16,6 Prozent. Die Arbeitgeber bieten für die kommenden zwei Jahre je 4,5 Prozent, pochen aber auf flexiblere Arbeitszeiten.

RMT-Boss Mick Lynch fordert seit Monaten direkte Verhandlungen mit der Regierung, weil diese den Zugbetreibern sowie der halbstaatlichen Infrastrukturfirma Network Rail finanziell die Hände gebunden habe. Verkehrsminister Mark Harper bestätigt diese Aussage indirekt: „Das Geld der Steuerzahler ist nicht unbegrenzt.“ In der Covid-Pandemie musste der Staat den privatisierten Unternehmen Milliarden zuschießen, um das System am Laufen zu halten.

Mick Lynch ist Generalsekretär der streikenden Eisenbahn-, Schifffahrts- und Transportgewerkschaft (RMT).

© dpa/Kirsty O'connor

Im Gegenzug soll nun gespart werden. Das Ergebnis des Disputs ist eine Massenabwanderung der Kundschaft: Gebrauchtwagenhändler melden massive Nachfrage, mehr als die Hälfte der Interessierten gebe den „zunehmend unzuverlässigen öffentlichen Personenverkehr“ als Motivation an.

Notstand im Gesundheitssektor nicht erst seit den Streiks

Für mehr Geld streiken in den ersten Januartagen auch Führerscheinprüfer und Briefträgerinnen, Unidozentinnen und Grenzschutzbeamte. Besonderes Kopfzerbrechen aber bereitet Sunak der Ausstand von Pflegepersonal und Ambulanzfahrern im Gesundheitswesen NHS.

165.000
Arbeitsplätze fehlen im Alten- und Pflegesektor Großbritanniens.

Denn anders als die meisten der vorher Genannten genießen die NHS-Bediensteten, die erst zur Monatsmitte wieder in den Ausstand gehen wollen, mit großer Mehrheit die Unterstützung der Bevölkerung. Das Boulevardblatt „Mirror“ zeigte am Mittwoch die fünf Tory-Premierminister seit 2010 mit der Überschrift: „Sie haben unseren NHS kaputtgemacht.“ Diese Interpretation hat sich bei den Briten festgesetzt.

Gesundheitsminister Steve Barclay macht unverdrossen die Covid-Pandemie dafür verantwortlich, dass es allerorten zu verheerend langen Wartezeiten auf Krankenwagen, aber auch auf Routinetermine beim Hausarzt kommt. Praktiker weisen auf langfristige Probleme hin: zu wenig Vorsorge, nicht genug Krankenhausbetten, zu wenig Plätze in Alten- und Pflegeheime für eine stetig älter und kränker werdende Bevölkerung.

In London streiken Arbeiter:innen des Gesundheitswesens für höhere Löhne und gegen die verheerenden Zustände in der Gesundheitsversorgung.

© Reuters/Henry Nicholls / Reuters/Henry Nicholls

Ein Sprecher der Downing Street musste schon vor Sunaks Rede einräumen: Viele Briten haben in diesem Winter „große Schwierigkeiten“, behandelt zu werden. Hausarzttermine werden wie Goldstaub gehandelt. Wie schlimm es um die Erstversorgung bestellt ist, verdeutlichte vor Weihnachten am Tag des jüngsten Streiks die drastische Warnung einer Leitstelle: „Rufen Sie nur dann die Notfallnummer, wenn Sie glauben, Sie müssten sterben.“

25.000
Patient:innen sterben jährlich infolge der fehlenden Versorgung, schätzt Adrian Boyle (Berufsverband der Notfallmediziner).

Auch an normalen Tagen muss sich im Landesdurchschnitt 60 Minuten lang gedulden, wer einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten hat; in ländlichen Regionen kann es anderthalb Stunden dauern, bis die Erstversorgung eintrifft. Im Spital angekommen warten Sanitäter immer häufiger stundenlang, bis sie ihre Patienten der Notaufnahme übergeben können.

Denn allerorten fehlen Betten: Außer Schweden hat das Königreich in Europa die niedrigste Anzahl von Krankenhausbetten, mit gut zwei pro 1000 Bewohnern lediglich ein Drittel des Bestands in Deutschland. Zudem sind viele Plätze von älteren Patienten belegt, deren Entlassung am Mangel von Heimplätzen scheitert.

Auf zehn bis zwölf Prozent des gesamten Bestandes schätzt Adrian Boyle vom Berufsverband der Notfallmediziner diesen Anteil. Die Folge all dieser verheerenden Zustände in der Versorgung: Pro Jahr sterben nach Boyles Schätzung bis zu 25.000 Patienten, weil ihnen nicht rechtzeitig Hilfe zuteilwird.

Schnelle Besserung ist nicht in Sicht. Im Alten- und Pflegesektor fehlen 165.000 Arbeitsplätze, beim NHS liegt die Zahl bei rund 100.000. Weil der Brexit die Anwerbung europäischer Fachkräfte erschwert, laufen jetzt Werbekampagnen in Afrika und auf den Philippinen.

Für Sunak dürften neue Arbeitskräfte zu spät kommen: Mit Dreiviertelmehrheit halten die Briten die Konservativen für ungeeignet, der Probleme beim NHS Herr zu werden. In den Umfragen liegt die Partei um 20 Prozent hinter der Labour-Opposition. (mit dpa)

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