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Tunesiens Präsident Saied bedient sich rassistischer Verschwörungstheorien.

© afp/Fethi Belaid

Tunesiens Präsident sieht rot: Saied greift Migranten und Opposition an

Der politisch geschwächte Präsident wird immer autoritärer und hetzt. Nach Übergriffen wollen viele Migranten das Land verlassen. Nicht nur die Afrikanische Union ist entsetzt.

„Ich halte nur ihretwegen durch“, sagt eine junge Frau mit kurzen Haaren und müden Augen. Sie sucht mit dem Blick ihre Kinder. Die Tochter sei gestern vier Jahre alt geworden, doch Geburtstag gefeiert haben sie nicht. Der Sohn ist knapp zwei.

Er buddelt an einem Abhang am Rand einer Schnellstraße in der Erde: Dort sitzen er und seine Eltern seit dem Morgen auf dem Boden, gegenüber der ivorischen Botschaft, die eine freiwillige Rückführungsaktion gestartet hat.

Hier wollen sie bleiben, bis sie in die Heimat ausgeflogen werden können. Dabei hat die Familie nichts außer einer kleinen Reisetasche und ein paar Decken, um die kalten Nächte zu überstehen. Ihr Vermieter habe sie aus der Wohnung geworfen, berichtet die Frau.

Präsident verbreitet rassistische Verschwörungstheorie

„Wir haben hier gearbeitet, die Kinder sind hier geboren“, erzählt der Vater. Seit sie 2017 nach Tunesien gekommen sind, hätten sie nie ernsthafte Probleme gehabt – bis vergangene Woche, als Präsident Kais Saied nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates die Theorie eines „Bevölkerungsaustauschs“ in die Welt setzte.

Es gebe orchestrierte kriminelle Bestrebungen nicht näher genannter Gruppierungen, die Geld dafür erhalten würden „die demographische Zusammensetzung Tunesiens zu verändern“, sagte der Staatschef. Durch eine Welle irregulärer Migranten solle das Land rein afrikanisch werden und seine muslimisch-arabische Identität ausgelöscht werden.

Diesem Phänomen müsse ein Ende bereitet werden. Bereits in den Wochen und Monaten zuvor hatten rechtsnationalistische Gruppierungen auf sozialen Netzwerken einen ähnlichen Diskurs propagiert.

Es kann nicht sein, dass die Migranten die Rechnung dafür zahlen sollen – das ist eine Schande für Tunesien und seine Demokratie.

Alaa Talbi, tunesischer Bürgerrechtler vom Forum für wirtschaftliche und gesellschaftliche Rechte

Seitdem mehren sich die Berichte über Verhaftungen und Angriffe auf schwarze Personen – sie werden aus ihren Wohnungen oder Läden geworfen, auf offener Straße ausgeraubt, oder daran gehindert, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.

Mehrere Menschen wurden dabei verletzt. Immer wieder hätten einfache Bürger in den vergangenen Tagen auf der Straße nach ihren Papieren verlangt, um zu sehen, ob sie sich legal im Lande aufhalten, berichtet die ivorische Familie. Überhaupt ein Transportmittel zu finden, das sie zur Botschaft bringe, sei schwierig gewesen.

21.000
Menschen aus dem südlicheren Afrika halten sich regulär in Tunesien auf, die Hälfte sind Studenten

Zwar hatten Tunesiens Behörden nach scharfer Kritik unter anderem der Afrikanischen Union zurückgerudert und betont, dass die rund 21 000 regulär im Land lebenden Migranten aus dem Afrika südlich der Sahara willkommen seien.  

Wir versichern unseren Partnern, dass Tunesien ein Freund ist.

 Anis Jaziri, Vorsitzender des Tunesisch-Afrikanischen Wirtschaftsrates, der versucht, die Wogen zu glätten

Man wolle nur die irreguläre Migration eindämmen, die zuletzt zugenommen habe. Doch diese Äußerung kam für viele zu spät: Vor verschiedenen afrikanischen Botschaften und der Internationalen Organisation für Migration (OIM) warten seitdem teils hunderte Menschen, die Tunesien verlassen wollen – viele mit gültigen Papieren, die sie demonstrativ vorzeigen.

Menschen aus der Elfenbeinküste campieren vor ihrer Botschaft in Tunis. Aus Angst vor fremdenfeindlichen Übergriffen hoffen sie auf Hilfe bei der Rückkehr in ihr Heimatland.

© AFP/FETHI BELAID

Für tunesische Firmen, die in den vergangenen Jahren zunehmend in andere afrikanische Länder expandiert haben, könnten die Äußerung des Präsidenten schwerweiegend Folgen haben. Der Tunesisch-Afrikanische Wirtschaftsrat (TABC) hat entsprechend als einer der ersten die Übergriffe kritisiert. Sein Vorsitzender Anis Jaziri bemüht sich, die Wogen zu glätten.

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„Wir versichern unseren Partnern, dass Tunesien ein Freund ist.“ Seit einer Woche ist er in den Medien, bei den afrikanischen Botschaftern und Studierenden Dauergast. Letztere stellen fast die Hälfte der sich regulär in Tunesien aufhaltenden Menschen aus dem Afrika südlich der Sahara dar. Für die vielen privaten Universitäten des Landes sind sie ein essentieller Teil ihres Geschäftsmodells.

Saied will von innenpolitischen Problemen ablenken

In der sich stetig verschärfenden Wirtschaftskrise und bei schwindendem Rückhalt in der Bevölkerung wolle Kais Saied mit seiner Theorie des sogenannten organisierten Bevölkerungsaustauschs nun von innenpolitischen Problemen ablenken, kritisieren Beobachter. Dass irreguläre Migranten Tunesiern die Arbeitsplätze wegnähmen, findet zunehmend auch in der Bevölkerung Widerhall.

Viele Tunesier lehnen den fremdenfeindlichen Kurs ihres Präsidenten auch ab.

© AFP/FETHI BELAID

Für die Migrationskrise sei neben Tunesien aber auch die EU verantwortlich, die ihre Außengrenzen auslagere und Migranten in Drittstaaten zurückschicke, sagt Alaa Talbi von der Bürgerrechtsorganisation Forum für wirtschaftliche und gesellschaftliche Rechte. „Es kann nicht sein, dass die Migranten die Rechnung dafür zahlen sollen – das ist eine Schande für Tunesien und seine Demokratie.“

Doch auch um die Demokratie ist es im Land schlecht bestellt. Nach mehr als zehn Jahren reformerische Bemühungen regiert der 2019 gewählte Präsident zunehmend autoritär. Nachdem er im Sommer 2021 den Notstand ausgerufen hatte, stellte er nach und nach wichtige staatliche Institutionen kalt und schränkte die Unabhängigkeit der Justiz ein.

Seit Mitte Februar wurden in einer Verhaftungswelle mehr als zehn bekannte Oppositionspolitiker, Richter, ein Geschäftsmann und der Vorsitzende des größten privaten Radiosenders festgenommen. Vorgeworfen werden ihnen Umsturzpläne und Gefährdung der Staatssicherheit – ein Vorwand, um politische Gegner aus dem Verkehr zu ziehen, kritisiert die Opposition.

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