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Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine.

© dpa/Evgeniy Maloletka

Ukraine-Invasion Tag 407: Zurück an den Verhandlungstisch – die Ukraine hat offenbar einen Plan

Russland lehnt Friedensvermittlung durch China ab , Selenskyj deutet Rückzug aus Bachmut an. Der Überblick am Abend.

In Kiews Pläne für ein mögliches Kriegsende scheint eine Prise Pragmatismus Einzug zu halten - oder Realismus, je nach Blickwinkel. Einer der engsten Berater des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, Andrij Sybiha, hat in einem Interview mit der „Financial Times“ angedeutet, dass die Regierung bereit ist, an den Verhandlungstisch mit Russland zurückzukehren. Und das, bevor die Krim militärisch befreit ist (mehr hier). 

Bisher hatte Kiew darauf beharrt, dass alle russischen Truppen das international anerkannte Staatsgebiet der Ukraine verlassen müssten, bevor erneute Verhandlungen beginnen könnten. Die Krim wurde stets als ukrainisch bezeichnet. Das scheint nun keine Voraussetzung mehr für Gespräche zu sein.

Auch dass in dem Fall wohl mit Purin verhandelt würde, scheint kein Showstopper mehr zu sein. Das wurde bisher ebenfalls ausgeschlossen. Sybiha allerdings machte auch klar, dass die Grundlage für Treffen mit Vertretern der Kreml-Regierung eine erfolgreiche ukrainische Offensive in diesem Sommer ist. 

Zusammen mit anderen Aussagen hochrangiger ukrainischer Offizieller ergibt sich inzwischen ein Bild, wie sich Kiew ein Kriegsende wohl vorstellt. In den vergangenen Wochen hatten mehrere hochrangige Militärs angedeutet, dass mit der ukrainischen Offensive in diesem Frühjahr die letzte Schlacht dieses Krieges beginnen könnte. Es soll ein entscheidender Schlag gegen die russischen Truppen gelingen. Vergangenen Herbst ließen sich zahlreiche ukrainische Regierungsmitglieder damit zitieren, dass dieses Jahr - also 2023 - der Krieg enden werde.

Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Russland infolge der ukrainischen Offensive militärisch so geschwächt ist, so viel besetztes Gebiet verloren hat, dass Moskau nichts anderes als Verhandlungen bleiben, wollen sie die Ukraine-Invasion nicht in einem vollständigen Desaster enden lassen. Ein Putin-mit-dem-Rücken-zur-Wand-Szenario ist es also, mit dem Kiew plant. 

Klar ist im Umkehrschluss auch: Tritt dieses Szenario nicht ein, droht ein langer Krieg - auf den der Westen, aber vielleicht auch die Ukraine, nicht vorbereitet ist. Selenskyj sprach zuletzt sehr offen über die Kriegsmüdigkeit der Ukrainer. 

Apropos Westen: Zuletzt kamen auch aus den USA Signale, dass die Ukraine nicht stur an dem Ziel festhalten solle, wirklich alle besetzten Gebiete von Russland zu befreien. Zu hoch wären wohl die Opfer, zu lange würde es dauern, wenn es denn überhaupt möglich sei.

Folgt man dieser Interpretation, bleibt also die eine, alles entscheidende Offensive. Der Druck auf Präsident Wolodymyr Selenskyj, auf die Militärs in Kiew, ist immens.  

Die wichtigsten Nachrichten des Tages:

  • Xi und Macron fordern rasche Friedensgespräche zwischen Kiew und Moskau: Frankreichs Präsident zeigt sich hoffnungsvoll, was eine Vermittlerrolle Chinas im Ukraine-Krieg angeht. Mit ihm befindet sich Ursula von der Leyen derzeit in Peking. Mehr hier. Der Kreml wiederum schließt eine Vermittlung im Ukraine-Konflikt durch China derzeit aus. China verfüge zwar „zweifellos über ein sehr effektives und überragendes Vermittlungspotenzial“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Donnerstag. Doch die Situation mit der Ukraine sei „komplex“.
  • Ein russischer Militärblogger wurde bei einer Explosion in einem Café im russischen St. Petersburg getötet. Die russische Partisanengruppe NRA reklamiert den Anschlag nun für sich. Mehr hier.
  • Internet-Nutzer machen sich über peinlichen Putin-Moment lustig: Wladimir Putin hat neue Botschafter aus den USA und der EU bei einer Zeremonie begrüßt. Anschließend klatschte aber niemand, obwohl der Präsident mehrere Pausen für Applaus ließ. Mehr hier.
  • Russland hat die vom Westen kritisierte Stationierung von Atomraketen im Nachbarland Belarus als Reaktion auf die Erweiterung der Nato verteidigt. „Weil wir um unsere Sicherheit fürchten, unternehmen wir natürlich Schritte, um sie zu gewährleisten“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Donnerstag der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. Jedes Mal, wenn sich die westliche Militärallianz auf Russlands Grenzen zubewege, müsse Moskau etwas unternehmen, um die Sicherheitsarchitektur auf dem Kontinent auszubalancieren. Mehr in unserem Liveblog.
  • Litauen will sich als Gastgeber des nächsten Nato-Gipfels Mitte Juli um eine offizielle Einladung an die Ukraine zur Aufnahme in die westliche Militärallianz bemühen. Das Parlament in Vilnius billigte am Donnerstag einstimmig eine entsprechende Entschließung. „Wir glauben, dass die Ukraine zu unserer Sicherheit beitragen und die Nato stärker machen wird“, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Zygimantas Pavilionis. 
  • Die Ukraine hat eine Bestellung von Radschützenpanzern im Nachbarland Polen von 100 auf 150 Exemplare aufgestockt. Dies kündigte der polnische Regierungssprecher Piotr Müller nach Angaben der Agentur PAP einen Tag nach dem Besuch von Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag in Warschau an. Die Panzer vom Typ KTO Rosomak sollen mit Finanzhilfen der USA und der EU finanziert werden. Dabei handelt es sich um eine Lizenzversion auf Basis des finnischen Militärfahrzeugs Patria AMV. 
  • Bachmut ist nach den Worten des russischen Söldnerführers Jewgeni Prigoschin noch teilweise in der Hand ukrainischer Truppen. „Es muss klar gesagt werden, dass der Feind noch nicht gegangen ist“, schreibt der Chef der Wagner-Gruppe auf Telegram.
  • Die ukrainischen Truppen befinden sich im Kampf um Bachmut nach den Worten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in einer schwierigen Lage. „Für mich ist das Wichtigste, dass wir unsere Soldaten nicht verlieren, und natürlich werden die Generäle vor Ort die richtigen Entscheidungen treffen, wenn sich die Lage weiter zuspitzt und die Gefahr besteht, dass wir unsere Leute verlieren, weil sie eingekesselt werden“, sagt Selenskyj und spielt damit auf einen möglichen Rückzug aus der umkämpften Stadt an. 
  • Nach schweren Niederlagen der russischen Truppen in der Ostukraine ist nach britischer Einschätzung der für die Heeresgruppe Ost der russischen Streitkräfte zuständige Kommandeur abgesetzt worden. Berichte in russischen sozialen Netzwerken zu Generaloberst Rustam Muradows Ablösung seien „höchstwahrscheinlich“ richtig, erklärte das Verteidigungsministerium in London am Donnerstag unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse.

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