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Ein russischer Soldat in Mariupol im April 2022.

© AFP/ALEXANDER NEMENOV

Ukraine-Invasion Tag 450: In nur einem Jahr wird aus Mariupol ein „Ort für Geister“

Die Nato bereitet sich auf einen russischen Angriff vor, Wagner-Deserteur will nach Russland zurückkehren. Der Überblick am Abend.

Rund ein Jahr ist nun her, dass sich die letzten ukrainischen Kämpfer im Asow-Stahlwerk in Mariupol ergaben und Russland die Stadt vollkommen erobern konnte. Seitdem muss der geschundene Ort als Propagandainstrument für den Kreml herhalten, etwa wenn ein paar neu errichtete Wohnblöcke eingeweiht werden oder Putin an einer Videoschalte teilnimmt, bei der die Wiederaufnahme des Tramverkehrs gefeiert wird. Einmal soll der Kremlherrscher sogar selbst in der Stadt gewesen sein.

Wie Luke Harding, Ukraine-Korrespondent für den britischen „Guardian“, der mit einigen der verbliebenen Bewohner sprechen konnte, schreibt, hatten die Bewohner nach dem russischen Erfolg auf etwas Frieden und Ruhe gehofft (Quelle hier). Mit der ukrainischen Gegenoffensive fürchten viele erneute Kämpfe um die Stadt.

Einer der Bewohner spricht davon, dass er „Heimweh“ nach seiner alten Stadt hat. In den Läden gebe es kaum etwas zu kaufen, die Preise seien astronomisch. Die Stadt sei voll russischer Flaggen und russischer Soldaten, in den Schulen und Ämtern hingen Porträts von Putin und dem Gouverneur der Region, Denis Puschilin.

Mehr als 300 Wohnblocks seien wegen der Zerstörung niedergerissen worden, das Zentrum sei Brachland, erzählt einer. Manche Bewohner hielten noch in zerstörten Häusern ohne Wasser und Strom aus, aus Angst vor Plünderungen.

Ungefähr die Hälfte der Stadtbewohner ist mit Beginn des Krieges in Richtung Westukraine geflohen; die eher Russland Zugeneigten gingen in russische besetzte Gebiete oder gleich nach Russland. Von einst knapp einer halben Million Einwohnern sind rund 120.000 geblieben, berichtet der „Guardian“. Von denen seien wiederum 50.000 aus allen Teilen Russlands in die Stadt Zugezogene. 120.000, das ist auch die Zahl der Kriegsopfer, die vermutet wird. Moskau behinderte über Wochen die Evakuierung von Zivilisten.

Rund ein Fünftel der verbliebenen Bewohner sollen laut dem Guardian auf die ukrainische Befreiung hoffen. Vor allem die Neubürger und diejenigen, die offen mit den Besatzern kollaborieren, fürchteten aber auch eine Rückeroberung durch die Ukraine. Die Kontrollen in der Stadt seien streng, der russische Geheimdienst suche nach ukrainischen Spionen.

Von den rund 3000 ukrainischen Soldaten, die sich im Asow-Stahlwerk ergaben, sind bisher rund 500 in die Ukraine zurückgekehrt. Eine geflohene Bewohnerin vergleicht die Stadt mit der Atomruine Tschernobyl: „Es ist ein Ort für Geister.“

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

  • Die Nato bereitet sich jetzt intensiv auf einen russischen Angriff vor: Auf dem Nato-Treffen im Juli will das Verteidigungsbündnis final klären, wie es auf eine Ausweitung des Ukraine-Kriegs reagieren würde. Jedes Land soll einen eigenen Plan erhalten. Mehr hier. 
  • „Einige Personen erfolgreich ins Visier genommen“: Ukrainischer Geheimdienstchef gibt Tötung russischer Propagandisten zu. Mehr hier.
  • Wagner-Deserteur will nach Russland zurückkehren: Andrei Medwedew war Kommandeur einer Einheit der Söldner-Gruppe und Anfang des Jahres nach Norwegen geflohen. Seitdem hat er dort viele Schwierigkeiten. Mehr hier.
  • Nato-Generalsekretär sieht Zwei-Prozent-Ziel als „absolutes Minimum“: 2022 hätten nur sieben Nato-Mitglieder die vereinbarten Verteidigungsausgaben erreicht. Zu wenig, findet Stoltenberg und pocht auf die „schnellstmögliche“ Umsetzung. Mehr hier.
  • US-Regierung will F-16-Lieferung anderer Staaten an die Ukraine ermöglichen: Die Biden-Regierung lehnte bisher die Lieferung von Kampfjets an die Ukraine ab. Nun scheint sich die Haltung geändert zu haben. Mehr hier.
  • Der mutmaßliche Anschlag auf eine wichtige Bahnstrecke auf der annektierten ukrainischen Halbinsel Krim hat nach Einschätzung britischer Geheimdienste auch Folgen für die russische Schwarzmeerflotte. Es handele sich um die einzige Zugverbindung in den Hafen von Sewastopol, wo die Flotte stationiert sei, teilte das Verteidigungsministerium in London am Freitag mit. „Russland wird versuchen, die Strecke schnell zu reparieren, aber der Vorfall wird die Lieferungen von Vorräten und möglicherweise auch von Waffen, wie zum Beispiel Kalibr-Marschflugkörpern, an die Flotte unterbrechen.“ Mehr in unserem Newsblog.
  • Der Chef der russischen Söldner-Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, hat die Einnahme der umkämpften Stadt Bachmut in der Ost-Ukraine in den kommenden zwei Tagen als unwahrscheinlich bezeichnet. „Bachmut ist immer noch nicht eingenommen worden“, sagte Prigoschin in einer auf dem Kurznachrichtendienst Telegram veröffentlichten Audiobotschaft.
  • Der Fraktionschef der Linken im Bundestag, Dietmar Bartsch, dringt auf eine Friedensinitiative im Ukraine-Krieg. „Ich hätte mir schon lange eine europäisch abgestimmte Friedensinitiative gewünscht“, sagte Bartsch, der sich aktuell mit einer Delegation seiner Fraktion in der Ukraine aufhält, am Freitag dem Fernsehsender Phoenix. Es sei notwendig, der Diplomatie eine Chance zu geben und alles dafür zu tun, die Waffen zum Schweigen zu bringen.
  • EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat beim G7-Gipfel in Japan für einen weiteren Ausbau der militärischen Unterstützung für die Ukraine geworben. „Wir müssen der Ukraine jetzt die Instrumente an die Hand geben, die sie braucht, um sich erfolgreich zu verteidigen und um volle Souveränität und territoriale Integrität zurückzugewinnen“, sagte sie am Freitag bei dem Spitzentreffen der führenden demokratischen Industrienationen. 
  • Die G7-Staats- und Regierungschefs haben sich entschlossen gezeigt, mit weiteren Sanktionen Russland den Krieg gegen die Ukraine zu erschweren. Der G7-Gipfel beschloss am Freitag, „Russland die G7-Technologien, Industrieausrüstung und Dienstleistungen zu entziehen, die seine Kriegsmaschinerie unterstützen“. In Hiroshima angekündigte Sanktionen umfassen demnach Exportbeschränkungen für Güter, die „entscheidend für Russland auf dem Schlachtfeld“ sind, sowie Sanktionen gegen Unternehmen und Organisationen, die für Moskau Kriegsmaterial an die Front bringen.
  • Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird persönlich am G7-Gipfel im japanischen Hiroshima teilnehmen. Vorher ist er bei einem Treffen der Arabischen Liga in Dschidda. 
    Die ukrainische Luftabwehr hat nach eigenen Angaben am Morgen einen erneuten russischen Luftangriff abgewehrt. Dabei seien 19 von 28 Drohnen und Raketen abgefangen worden, teilt ein Sprecher der Luftwaffe im ukrainischen Fernsehen mit. Dabei handele es sich um drei Marschflugkörper vom Typ Kalibr und 16 Drohnen.
  • Das US-Verteidigungsministerium hat den Wert der aus eigenen Beständen abgerufenen Militärhilfen für die Ukraine um rund drei Milliarden US-Dollar zu hoch angegeben. Grund dafür sei ein Buchungsfehler, teilte Pentagon-Sprecherin Sabrina Singh der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstag auf Anfrage mit. Den Berechnungen seien in einigen Fällen die Wiederbeschaffungskosten der zur Verfügung gestellten militärischen Ausrüstung und nicht ihr Nettowert zugrunde gelegt worden. 
  • Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) appelliert daran, die Ukraine weiterhin mit Waffen zu unterstützen. „Wer heute fordert, die Waffenlieferungen in die Ukraine zu stoppen, der überlässt die Ukraine ihrem Schicksal. Das Ende der Waffenlieferungen heute wäre das Ende der Ukraine morgen“, sagt der Minister der „Augsburger Allgemeine“ und der „Main-Post“ einem Vorabbericht zufolge.

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