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Ein zerstörter russischer Panzer in der Südukraine.

© REUTERS/Viacheslav Ratynskyi

Ukraine-Invasion Tag 558: Die vielleicht wichtigsten zehn Kilometer der Front

Ukrainer kämpfen um den Durchbruch im Süden, Erdogan trifft Putin, Kritik an Scholz wegen Taurus-Verzögerung. Der Überblick am Abend.

Die ukrainische Offensive im Süden nimmt an Fahrt auf. Kleine Infanterieeinheiten von bis zu 10 Soldaten greifen die russischen Stellungen in den Schützengräben zwischen den Dörfern Werbowe und Nowoprokopiwka immer wieder an, gleichzeitig räumen weitere Einheiten die Minen in der Gegend, um den Weg für schweres Gerät wie Panzer freizumachen. Die ukrainische Artillerie versucht, so viel russische Artillerie und Raketenwerfer wie möglich auszuschalten.

Dieses zähe und verlustreiche Vorgehen hat sich in den vergangenen Tagen bis zu dem Punkt beschleunigt, dass einige Experten glauben, die verbliebenen russische Verteidigungslinien könnten brechen. Der Schlüssel für die Erfolge der vergangenen Tage war die Eroberung des nahegelegenen Dorfes Robotyne vor rund zwei Wochen.

Seitdem scheinen Russen größere Probleme in der Defensive zu bekommen. Ein ukrainischer General erklärte vor einigen Tagen, dass die am besten befestigten russischen Defensivlinien inzwischen überwunden seien. „Nach und nach gewinnen an Momentum“, zitiert die BBC einen weiteren ukrainischen Offiziellen (Quelle hier). Der deutsche Militärexperte Nico Lange glaubt, dass die Ukraine den „langsam zu ihren Gunsten wendet“ (Quelle hier). 

Die rund zehn Kilometer Front, die zwischen Werbowe und Nowoprokopiwka liegen, sind wahrscheinlich die derzeit wichtigsten entlang der gesamten Kampflinie. Denn die meisten Experten sind überzeugt, dass die Ukrainer hier ihren großen Durchbruch der russischen Linien versuchen werden.

In dem Szenario würden große Verbände an Soldaten und Fahrzeugen versuchen, durch einen Korridor hinter die russischen Linien zu gelangen und so die elaborierten Verteidigungsstellungen zu umgehen und Chaos in den Reihen von Moskaus Truppen zu stiften. 

Soweit der mögliche Plan. Militärexperten weisen allerdings darauf hin, dass die durchbrechenden Truppen sehr verwundbar für russische Angriffe wären, sowohl aus der Luft als auch von Land. 

Dass auch die russische Militärführung die Situation als ernst einschätzt und sich auf einen möglichen Durchbruchsversuch vorbereitet, zeigen die Truppenverlegungen der vergangenen Tage. Von allen Teilen der Front und sogar aus Russland selbst werden aktuell Soldaten in die Südukraine geschickt. Schon zum dritten Mal wurden neue Eliteeinheiten in die Gegend versetzt. Allerdings liegen die Nachschublinien der Russen nah an der Front und sind somit ein vergleichsweise leichtes Ziel. Hinzu kommt ein Mangel an Munition und Gerät. Seit dem Beginn der Gegenoffensive Anfang Juni waren die Voraussetzungen für einen größeren Erfolg der Ukrainer wohl nie besser.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages:

  • In Kiew sind erneut alle Schulen Ziel von Bombendrohungen geworden. Die Polizei appelliert an die Öffentlichkeit, Ruhe zu bewahren. Eine ähnliche Warnung hatte sich als falsch erwiesen. Mehr hier. 
  • Die Präsidenten der Türkei und Russlands verhandelten am Montagnachmittag in Sotschi. Ohne dass alle russischen Forderungen erfüllt werden, sieht Putin keine Rückkehr zum Getreideabkommen. Mehr hier.
  • Die bereits seit fast drei Monaten anhaltende ukrainische Gegenoffensive könnte im Süden des Landes weiter an Geschwindigkeit gewinnen, sagte der Militärexperte Nico Lange der „Bild“. Die größten Minenfelder und die erste russische Verteidigungslinie hätten die ukrainischen Streitkräfte bereits überwunden, „die zweite Linie mindestens teilweise auch“, wird Lange zitiert. Mehr in unserem Newsblog.
  • Allein in der vergangenen Woche habe die ukrainische Armee drei Quadratkilometer rund um die Stadt Bachmut im Osten des Landes zurückerobert, teilt die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maliar mit. Zudem seien Vorstöße im Süden im Raum Saporischschja in Richtung der Ortschaften Nowodanyliwka und Nowoprokopiwka erfolgreich gewesen. Seit dem Beginn der Gegenoffensive Anfang Juni seien rund 47 Quadratkilometer um Bachmut wieder in ukrainischer Hand.
  • Der Militäranalyst Franz-Stefan Gady rechnet damit, dass die ukrainische Gegenoffensive in den kommenden Wochen kulminiert. „Letztendlich geht es in dieser Abnützungskampagne darum, welche Seite über mehr Reserven verfügt“, schrieb Gady, der unter anderem für das Institute for International Strategic Studies (IISS) in London arbeitet, am Montag auf der Plattform X (ehemals Twitter). Nach heutiger, allerdings unvollständiger Datenlage scheine es möglich, dass die Offensive in den kommenden Wochen ihren Höhepunkt erreichen werde. 
  • Zum neuen Semester in Russland haben sich offiziellen Angaben zufolge 8500 im Krieg gegen die Ukraine kämpfende Soldaten oder deren Kinder aufgrund einer speziellen Quote zum Studium eingeschrieben. In praktisch allen Regionen seien solche Vergünstigungen für Kriegsteilnehmer geschaffen worden, sagte der stellvertretende Regierungschef Dmitri Tschernyschenko am Montag bei einer Kabinettssitzung, wie die Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta“ berichtete. Viele Kämpfer seien an den führenden Hochschulen Russlands immatrikuliert worden. Auch um Freiwillige für ihren Krieg gegen die Ukraine zu gewinnen, hat die russische Führung den Soldaten eine Reihe von Vergünstigungen zugesichert. 
  • Das Verteidigungsministerium in Minsk betrachtet die angebliche Verletzung des belarussischen Luftraums durch einen polnischen Militärhubschrauber am Freitag nicht als Provokation. Dies gab der belarussische Verteidigungsminister Wiktor Chrenin laut russischen Staatsmedien während des gemeinsamen Militärmanövers eines von Russland geführten Sicherheitsbündnisses bekannt.
  • Bei dem russischen Angriff auf den Donau-Hafen Ismajil in der Nacht sind ukrainischen Angaben zufolge auch Drohnen auf rumänischem Territorium niedergegangen und dort detoniert. Das sagte ein Sprecher des ukrainischen Außenministeriums. Rumänien gehört der Nato an. Der Sprecher rief die westlichen Partner der Ukraine auf, Lieferungen von westlichen Flugabwehrsystemen zu beschleunigen. 
  • Russland setzt nach britischer Einschätzung auch seinen Cyberkrieg gegen die Ukraine fort. Die russische Hackergruppe „Sandworm“ habe eine Schadsoftware namens „Infamous Chisel“ eingesetzt, teilte das Verteidigungsministerium in London am Montag mit. Sie ermögliche den dauerhaften Zugriff auf kompromittierte Android-Geräte und das Abgreifen von Daten.
  • Die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat die zurückhaltende Linie von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine kritisiert. „Auf was wartet der Bundeskanzler in Gottes Namen? Er alleine blockiert diese Entscheidung innerhalb der Koalition. Das ist verantwortungslos“, schrieb die Vorsitzende des Bundestags-Verteidigungsausschusses am Sonntagabend auf der Plattform X, bislang Twitter. 
  • Die Ukraine hat im Zuge ihrer Gegenoffensive nach eigenen Angaben Erfolge gegen die russischen Streitkräfte entlang der südlichen Front erzielt. Die Armee setze ihre Offensiveinsätze im Gebiet Melitopol fort, sagte die ukrainische Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar am Montag im Staatsfernsehen. „Unsere Streitkräfte hatten Erfolge in der Nähe von Nowodanyliwka und Nowoprokopiwka“, sagte sie. Zudem habe Kiew drei Quadratkilometer nahe der umkämpften ostukrainischen Stadt Bachmut zurückerobert. 
  • Eine Untersuchungskommission hat nach Angaben von Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa keine Beweise dafür gefunden, dass das Land im Dezember Waffen oder Munition auf ein russisches Schiff verladen hat. Keine der Anschuldigungen habe sich als wahr erwiesen und diejenigen, die die Vorwürfe erhoben hätten, könnten ihre Behauptungen nicht belegen, sagte Ramaphosa bei einer Ansprache an die Nation am Sonntagabend. 
  • Ein 28-jähriger russischer Soldat, der mit einem Hubschrauber in der Ukraine gelandet war und sich dort ergeben hat, hat nun seine Landleute aufgefordert, es ihm gleichzutun. In der Dokumentation „Abgeschossene russische Piloten“ im ukrainischen Fernsehen sagt er laut „Kyiv Independent“.
  • Russische Marineflieger haben nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums im nordwestlichen Teil des Schwarzen Meeres vier US-Schlauchboote mit ukrainischen Landungstruppen zerstört.
    Selenskyj hat sich bei einem Telefonat mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron für die bisherige Militärhilfe bedankt. Selenskyj sagte, es würden auch ukrainische Piloten in Frankreich ausgebildet, was die internationale Kampfjet-Koalition noch schlagkräftiger mache. Besprochen worden seien mit Macron außerdem die nächsten Hilfspakete. Details nannte Selenskyj nicht. 
  • Wenige Stunden vor dem Spitzentreffen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan greift Russland nach Angaben der ukrainischen Behörden einen der wichtigsten Getreideexporthäfen des Landes aus der Luft an. Die ukrainische Luftwaffe forderte die Bewohner des Hafens von Ismajil am Montag nach Mitternacht auf, sich in Sicherheit zu bringen. Einige ukrainische Medien berichteten von Explosionen in der Gegend.

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