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Ein ukrainischer Polizist in Awdijiwka, der vor einem brennenden Gebäude in Deckung geht.

© dpa/Evgeniy Maloletka

Ukraine-Invasion Tag 643: Moskaus riesige Verluste und eine bittere Wahrheit für Kiew

Nato bekräftigt Unterstützung für die Ukraine. Sturm über dem Schwarzen Meer beeinflusst den Krieg. Die Lage am Abend.

Die seit Wochen hart umkämpfte ukrainische Stadt Awdijiwka wird demnächst fallen. Zwar sollte man im Krieg mit Vorhersagen immer vorsichtig sein, aber dieses Szenario ist derzeit sehr wahrscheinlich. Von allen Seiten greifen russische Truppen inzwischen die Stadt an und erobern Meter für Meter in den Randbezirken. Ukrainische Truppen in der Stadt drohen vom Nachschub abgeschnitten zu werden. Kein Haus in der Stadt ist noch intakt. 

Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin würde damit der letzte militärische Sieg in diesem Jahr gehören. Mit der Stadt Bachmut, die Wagner-Söldner im Frühsommer einnahmen, gehörte ihm auch der erste Sieg. Wobei Awdijiwka wie Bachmut ein eher symbolischer Erfolg ist. Die Eroberung der Stadt ist militärisch sinnlos. Ja, die russischen Truppen setzen sich damit taktisch in eine etwas bessere Position und begradigen den Frontverlauf, mag mancher Experte einwenden. Und ja, für Putin ist es auch ein wichtiger Propagandasieg. Aber es ist eben dann doch nur ein Haufen Ruinen, den Moskau da gewinnen kann. 

Die Kämpfe um Awdijiwka nur unter diesen Gesichtspunkten zu betrachten, greift aber zu kurz. Anhand der Stadt nahe Donezk lässt sich auch ein Problem aufzeigen, das sich in diesem Jahr für Kiew und seine Unterstützer herausgeschält hat und den gesamten weiteren Kriegsverlauf prägen könnte.

Die ukrainische Strategie bestand in diesem Jahr vor allem daraus, die russische Armee in den Zusammenbruch zu schleifen. Sowohl in Bachmut, als auch bei der Sommeroffensive und auch in Awdijiwka ging es Kiew vor allem darum, Moskau möglichst hohe Verluste bei Soldaten und beim Gerät zuzufügen. In Kiew hatte man die zynische – aber im Krieg nachvollziehbare – Rechnung aufgemacht, dass wenn für jeden getöteten oder verwundeten ukrainischen Soldaten fünf oder mehr russische Soldaten verwundet oder getötet werden, irgendwann der Krieg endet. Dass irgendwann der Punkt kommt, an dem die russischen Generäle oder die Soldaten sich gegen Putin stellen, irgendwann der Druck auf ihn zu groß wird, irgendwann Putin sich seine Koste-es-was-es-wolle-Strategie nicht mehr leisten kann oder will. Eine quasi mathematische Logik.

Die bittere Erkenntnis dieses Kriegsjahres: Putin kann – und er will. Der Kremlherrscher und seine Führung sind bisher zu jedem Opfer bereit. 20.000 Tote und Verletzte für Bachmut? Kein Problem. Ebenso so viele Tote und Verletzte und Hunderte zerstörte Panzer und gepanzerte Fahrzeuge für Awdijiwka? Kein Problem. Der ukrainische Armeechef Walerij Saluschnyj bemerkte zuletzt bitter: Jedes andere Land hätte nach den Verlusten dieses Sommers den Krieg beendet. Nicht Russland. 

Für Kiew und den Westen bedeutet das, dass nun nach einer völlig neuen Strategie gesucht werden muss. Den Abnutzungskrieg wird die Ukraine auch 2024 nicht gewinnen. Allein schon, weil die Fähigkeiten (oder der Wille) des Westens Waffen zu liefern, begrenzt sind.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages:

  • In der Ukraine ist die Frau des Chefs vom Militärgeheimdienst GUR offiziellen Angaben zufolge mit Schwermetallen vergiftet worden. Sie werde in einem Krankenhaus behandelt, bestätigte ein Sprecher des Geheimdienstes entsprechende Medienberichte. Mehr dazu lesen Sie hier.
  • Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow könnte nach eigenen Angaben zur Stärkung der russischen Streitkräfte weitere 3000 Kämpfer in die Ukraine schicken. „Sie (die Kämpfer) haben die beste Ausrüstung und moderne Waffen“, sagt Kadyrow auf Telegram. „Außerdem sind die Jungs sehr kämpferisch und sehr motiviert, um Ergebnisse zu erzielen.“
  • Die EU-Kommission macht sich für einen grünen Wiederaufbau der Ukraine nach dem russischen Angriffskrieg stark. Heute startete eine Konferenz der EU-Kommission mit Vertreterinnen und Vertretern der Ukraine mit dem Ziel, zusammen mit Bürgermeistern und Unternehmen Strategien für einen nachhaltigen Wiederaufbau zu entwickeln.
  • Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat an die Verbündeten appelliert, die Ukraine über den Nahost-Krieg nicht zu vernachlässigen. Er rief die Nato-Staaten beim Außenministertreffen in Brüssel zu weiterer Militärhilfe für das von Russland angegriffene Land auf. Als Vorbild verwies er auf Deutschland und die Niederlande, die Kiew zusammen zehn Milliarden Euro in Aussicht gestellt hätten. Mehr zum Nato-Treffen lesen Sie hier.
  • Trotz Haushaltskrise will Deutschland nach Aussage von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in der Unterstützung der Ukraine nicht nachlassen. „Das werden wir auch fortsetzen, solange wie das notwendig ist“, sagte Scholz nach einem Treffen mit dem Premierminister von Malta, Robert Abela. Deutschland werde der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine nach den USA bleiben. Mehr zu seiner Rede lesen Sie hier.
  • Außenministerin Annalena Baerbock hat der Ukraine Unterstützung für weitere Offensiven gegen die russischen Besatzer zugesichert. Man tue alles dafür, dass die Ukraine auch im nächsten Jahr so viele Dörfer und Städte befreien könne wie möglich, sagte sie beim Nato-Außenministertreffen in Brüssel. Das Land müsse in die Lage versetzt werden, auch den Menschen in der Ostukraine ein Leben in Frieden und Freiheit zu ermöglichen.
  • Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba hat seine Teilnahme an einem Ministertreffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) abgesagt. Der Sprecher des Außenministeriums in Kiew, Oleh Nikolenko, begründete das Fernbleiben Kulebas mit der Teilnahme des russischen Außenministers Sergej Lawrow.
  • Ein Sturm über dem Schwarzen Meer bremst nach Ansicht von US-Experten das militärische Vorgehen entlang der Frontlinie in der Ukraine. Die Kampfhandlungen seien aber nicht vollständig zum Erliegen gekommen, teilte das US-Institut für Kriegsstudien (ISW) mit. Mehr lesen Sie im Newsblog.

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