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Eine Wählerin gibt in Belgrad ihre Stimme ab.

© REUTERS/DJORDJE KOJADINOVIC

Wahltag in Serbien: „Wir haben eine ganz andere politische Szene als noch vor zehn Jahren“

Die erstmals seit Jahren geeinte Opposition hofft an diesem Sonntag auf entscheidende Erfolge. Der liberale Abgeordnete Natan Albahari erklärt, warum diese Wahl für Serbien so wichtig ist.

Herr Albahari, Sie und Ihre Mitstreiter:innen haben, so sagen Sie, einen besonders schmutzigen Wahlkampf hinter sich. Was ist passiert?
Wir mussten unter anderem erleben, dass persönliche gezielte Verleumdung auf eine führende Person unserer Koalition sie zum Rückzug zwang. Dann wurden im ganzen Land Fotomontagen plakatiert, die Köpfe der Opposition in Uniformen der Ustascha zeigten.

… der faschistischen kroatischen Miliz im Zweiten Weltkrieg, die an der Seite NS-Deutschlands Massaker an jüdischen Menschen, anderen Minderheitenangehörigen beging und, erklärt antiserbisch, ethnische Serbinnen und Serben ermordete.
Das war wie gesagt im ganzen Land zu sehen und löst in Serbien verständlicherweise sehr heftige Reflexe aus. Die Wirkung war nicht zu unterschätzen. Ich selbst wurde mit antisemitischen Schmähungen belegt.

Trotzdem rechnen Sie sich diesmal Chancen aus gegen die Partei Aleksandar Vučićs, der als Präsident übrigens selbst nicht zur Wahl steht.
Ja, wir treten erstmals seit 2014 als Opposition geeint an. Und waren seither auch nie in einer besseren Lage, was die Umfragen angeht.

Ihr Bündnis „Serbien gegen Gewalt“ rechnet sich vor allem Chancen aus, das Rathaus von Belgrad zu erobern. Die Kommunalwahlen finden ja gleichzeitig mit der Parlamentswahl statt.
Wir hoffen, dass wir dort die Mehrheit bekommen, ja. Das wäre über Belgrad hinaus ein Signal. Es wäre die erste Niederlage der regierenden SNS.

Natan Albahari ist Abgeordneter des serbischen Parlaments. Er gehört der liberalen Partei PSG an.
Natan Albahari ist Abgeordneter des serbischen Parlaments. Er gehört der liberalen Partei PSG an.

© PSG

Serbien ist EU-Beitrittskandidatin. Aber Ihre Opposition klagt immer wieder über mangelnde Unterstützung aus Europa, aus Brüssel wie den Mitgliedsstaaten. Was erwarten Sie von dort?
Das, was ich vor ein paar Wochen bei Gesprächen im EU-Parlament, aber auch im Deutschen Bundestag kritisch angemerkt habe: Es kommt viel zu oft vor, dass die Kommissionspräsidentin, aber auch andere EU- und nationale Offizielle bei Besuchen in Belgrad nicht in Kontakt mit der proeuropäischen Opposition treten. Das ist problematisch. Nicht weil wir um europäische Unterstützung betteln müssten: Es geht um die Wirkung auf die Serbinnen und Serben. Viele von ihnen, die sehr stark für die EU waren, fangen an,  deren Absichten zu bezweifeln.

Was meinen Sie?
Wir hören seit Jahren von der Wertebasis der EU und ihren Prinzipien: Demokratie, Rechtsstaat, persönliche Freiheit und deren Schutz. Die Menschen hier erleben aber am eigenen Leib, dass all dies in ihrem Land nicht respektiert, sondern sogar mit Füßen getreten wird.

Weil in unserem Land die staatlichen Institutionen vom herrschenden Establishment gekapert wurden, ist die Zivilgesellschaft eine echte und wichtige Gegenkraft.

Natan Albahari, liberaler Abgeordneter im serbischen Parlament

Und müssen dann erleben, dass die Kommissionspräsidentin von der Leyen eine Pressekonferenz mit Herrn Vučić gibt, ohne darüber, also über wirklich zentrale Themen, auch nur ein kritisches Wort zu verlieren.

Ein Satz wie „Wir brauchen mehr demokratischen Fortschritt in Serbien“, das klingt dann wie eine Phrase. Sie brauchte aber echte Bedeutung. Nicht für uns in der Opposition, sondern für die Wählerschaft, die eigentlich Richtung Europa will, aber skeptisch wird, wenn diese EU immer Herrn Vučić die Hand reicht. Der sich zwar zu Europa bekennt, aber tatsächlich alles andere ist als proeuropäisch.

Sie brauchen ja auch den Rückhalt dessen, was man unter Zivilgesellschaft versteht, eine engagierte Bürgerschaft. Die Proteste unter dem Siegel „Serbien gegen Gewalt“ haben seit dem Frühjahr zigtausende auf die Straße getrieben; die Opposition hat sich unter demselben Namen zusammengefunden. Hält diese Unterstützung?
Sie ist fundamental. Weil in unserem Land die staatlichen Institutionen nicht mehr im Sinne einer Demokratie funktionieren beziehungsweise vom herrschenden Establishment gekapert wurden, ist die Zivilgesellschaft eine echte und wichtige Gegenkraft: demokratische NGOs, investigative Medien, Forscherinnen und Forscher.

Was ist mit Parteien?
Wir brauchen diese Zivilgesellschaft auch dafür. Um als Parteien stärker zu werden. In diesen letzten zehn Jahren sind nicht nur die Institutionen in Serbien schwächer geworden, auch die Parteien wurden es. Sie wurden zehn Jahre lang zerstört – wobei ich hier nicht in die Details gehen will, warum einige auch ohne Zutun von außen implodiert sind. Parteien sind aber nötig. Ohne sie und ihre Infrastruktur wird es schwierig, einer Regierung entgegenzutreten.

Aber sie sprechen selbst von einer besseren Ausgangsposition für diesen Sonntag?
Wir haben zum Glück eine völlig andere politische Szene hier als vor zehn Jahren, vor allem was die Opposition betrifft. So gut das ist: Es wird für alle in dieser Koalition, die aus acht Parteien besteht, Zeit brauchen zu wachsen, unsere Basis zu festigen und unsere Organisation auch außerhalb der größeren Städte. Bis wir soweit sind, werden Graswurzelorganisationen, die Zivilgesellschaft, die Bürgerinnen und Bürger selbst eine Schlüsselfunktion haben. Sie müssen uns helfen. Damit auch wir für sie arbeiten können.

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