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Demonstranten versammeln sich, um gegen die geplante Rentenreform zu protestieren.

© dpa/Michel Spingler

„Wir sind hier, weil wir Angst haben“: Demo gegen Rentenreform könnte Wendepunkt für Frankreich sein

In über 200 französischen Städten sind Menschen gegen Macrons Rentenpläne auf die Straße gegangen. Eindrücke aus Lille im Norden des Landes.

Mir einer Regenbogen-Flagge behangen und einem grünen Hut in Froschform bekleidet: So sind die 20-jährigen Freunde Gaby Dorchies und Caren Chloé am Dienstag im nordfranzösischen  Lille zur „Porte de Paris“, einem zentralen Platz der Stadt, gekommen. Trotz des grauen Himmels, der niedrigen Temperaturen und des Nieselregens.

Denn das Anliegen ist ihnen wichtig: „Wir sind hier, weil wir Angst haben, dass es für uns gar keine Rente mehr geben wird“, sagt Dorchies, der in Lille Kunst studiert. In den Händen hält er eine Fahne der Gewerkschaft der „Fédération Syndicale Unitaire“, der großen Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst.

„Sie werden das Rentenalter immer weiter nach hinten schieben, bis es gar keins mehr gibt“, fürchtet er. Seine Hoffnungen setzt er in diesen Tag. Der könne der Beginn einer großen sozialen Bewegung sein, sagt der Kunststudent.

Gabi Dorchies und Caren Chloé auf der Demonstration in Lille gegen die Rentenreform.

© Anna Thewalt/Tagesspiegel/Anna Thewalt

Der Beginn einer mehrtägigen Blockade großer Teile des Landes – und einer breiten sozialen Bewegung. Oder das letzte Auflehnen gegen eine Reform, die zwei Drittel der Menschen in Frankreich ablehnen: Tatsächlich sehen Beobachter den landesweiten Streik am Dienstag gegen die geplante Rentenreform des französischen Präsidenten Emmanuel Macron als entscheidenden Wendepunkt an.

Bereits zum sechsten Mal seit dem 19. Januar haben die Gewerkschaften zur Niederlegung der Arbeit und zu Demonstrationen aufgerufen. Das erklärte Ziel: Frankreich zum Stillstand bringen. Und somit die Regierung doch noch von ihren Plänen zur Anhebung des Rentenalters abbringen.

Wenn so viele Menschen auf die Straße gehen, dann muss sie die Reform zurückziehen.

Gewerkschaftschef Laurent Berger

„Wenn so viele Menschen auf die Straße gehen und die Regierung ihr Vorhaben so schlecht begründen kann, dann muss sie die Reform zurückziehen“, forderte der Chef der großen Gewerkschaft CFDT, Laurent Berger, am Dienstag zum Beginn des Protestmarsches in Paris. Es handle sich um die größte Protestbewegung seit Jahrzehnten, so seine Einschätzung.

Macron will mit der Reform das gesetzliche Renteneintrittsalter von bisher 62 auf 64 Jahre erhöhen. Auch die Beitragsdauer, die es für eine volle Rente braucht, soll in einem schnelleren Tempo als bisher vorgesehen auf 43 Jahre angehoben werden.

Die Krankenschwester Carine Pin ist stinksauer darüber. Die 58-Jährige steht am Dienstag in Lille inmitten anderer Demonstrierender und wartet darauf, dass der Protestzug losläuft. Sie trägt einen weißen Kittel, auf dem sie hinten mehrere Punkte aufgeschrieben hat: „eine Krankenschwester für 50 Pflegeheim-Bewohner“, „12-Stunden-Schichten“, „280 Überstunden im Jahr 2022“.

Ist wütend: Carine Pin, 58, Krankenschwester, auf der Demonstration in Lille.

© Anna Thewalt/Tagesspiegel/Anna Thewalt

Pin arbeitet als Krankenschwester in einem Pflegeheim, erzählt sie. „Können Sie sich vorstellen, dass ich mit 64 noch eine Herzdruckmassage mache?“, fragt sie. Sie sehe das als zu großes Risiko – für sich selbst sowohl als auch für die Patienten. Sie geht davon aus, dass sich viele Kollegen einfach krankmelden, sollten sie länger arbeiten müssen. Denn ihren körperlich harten Job halte man ab einem bestimmten Alter nicht mehr aus. Obwohl sie streikt, glaubt Pin nicht, dass die Mobilisierung wirklich die Reform aufhalten könne. „Viele Menschen können sich in diesen Krisenzeiten schlicht nicht leisten, mehrere Tage hintereinander zu streiken“, sagt sie.

Während sie das erzählt, gehen in der Nähe Böller auf Lilles Straßen los. Demonstrierende haben sie in die Menge geworfen. Ein Vertreter der Polizei sagt später, dass man in der Stadt 10.000 bis 15.000 Demonstrierende erwartet.

Frankreichweit waren nach Angaben der Behörden am Dienstag 1,28 Millionen Menschen auf der Straße, nach Angaben der Gewerkschaft CGT 3,5 Millionen. Das ist die höchste Zahl seit Beginn der Demonstrationen gegen die Reformpläne. 

Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ifop sind gut zwei Drittel der Französinnen und Franzosen gegen die Rentenreform. Besonders stark wird sie demnach von Menschen unter 35 Jahren abgelehnt. In mehr als 200 französischen Städten waren für Dienstag Demonstrationen angekündigt worden, während der Senat am Nachmittag die Reformpläne debattieren wollte. Auch der Artikel 7 der Reform, der die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 64 Jahre festschreibt, sollte dort besprochen werden.

Nein, Nein, Nein ist Nein: Ein Protestplakat auf der Demonstration in Lille.

© Anna Thewalt/Tagesspiegel/Anna Thewalt

Die Auswirkungen der Proteste waren am Dienstag bereits landesweit zu spüren: 80 Prozent der Fernzüge fielen aus, in Paris und anderen Großstädten war der öffentliche Nahverkehr stark beeinträchtigt. Demonstranten blockierten zudem sämtliche Raffinerien des Landes, so dass die Tankstellen nicht mit Treibstoff beliefert werden konnten. Auch das Atomkraftwerk Gravelines, rund 90 Kilometer von Lille am Meer gelegen, wurde blockiert. Etwa ein Drittel des Lehrpersonals legte am Dienstag die Arbeit nieder.

Die Regierung des französischen Präsidenten will die geplanten Änderungen im Schnellverfahren beschließen. Die Zeit der Debatte ist insgesamt auf 50 Tage begrenzt. Der Senat selbst muss bereits bis zum 12. März seine Beratungen abgeschlossen haben – zu insgesamt 20 Artikeln mit 4700 Änderungsanträgen.

Danach wird der Gesetzesentwurf an ein Gremium weitergegeben, dass aus Mitgliedern der französischen Nationalversammlung und des Senats besteht. Je nach Entscheidung wird der Entwurf dann wieder ans Parlament überwiesen, oder muss auch nochmal in den Senat. So oder so: Bis zum 26. März muss der Prozess abgeschlossen sein, dann sind die 50 gesetzlich terminierten Tage vorbei.

Die Gewerkschaften und diejenige, die ihrem Ruf nach Protest folgen, wollen den Druck nochmal erhöhen. Bereits am Mittwoch soll in manchen Branchen weiter gestreikt werden. Der nächste große landesweite Streik, das kündigten die Gewerkschaften am Dienstagabend an, soll kommenden Samstag stattfinden.

Erneut zeichnen sich massive Beeinträchtigungen im Verkehr ab. Bei der Bahngesellschaft SNCF und bei der Müllabfuhr wird mit verlängerbaren Streiks gedroht. Wie viele Tage weiter gestreikt wird und wie die Regierung darauf reagiert – erst wenn das bekannt ist, wird man wissen, wohin der 7. März als Wendepunkt geführt hat. (mit dpa, afp)

Hinweis: Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Reise des Programms für junge Journalistinnen und Journalisten des Deutsch-Französischen Instituts und des Deutsch-Französischen Jugendwerks.

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