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Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin (Archivbild)

© Reuters/Uncredited

Update

Rätselhafte Presseanfrage an Söldner-Chef: Gibt es eine Kreml-Verschwörung gegen Wagner-Gründer Prigoschin?

Jewgeni Prigoschin intensiviert seine Kritik an Moskau. Dort will man den Wagner-Chef offenbar absägen. Doch so leicht gibt dieser nicht auf.

| Update:

Der Schlagabtausch zwischen Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin und Moskau geht in die nächste Runde: In einer Presseanfrage an sein Unternehmen, die Concord Group, wird behauptet, dass der Sicherheitsrat der Russischen Föderation auf die „Neutralisierung“ der Söldner-Gruppe und ihres Gründers hinarbeitet – mit Putins Einverständnis.

Der US-amerikanische Thinktank „Institute for the Study of War“ (ISW) sieht darin allerdings nur einen Vorwand Prigoschins, verbal gegen den Sekretär des Rates, Nikolai Patruschew, aufzurüsten. Und ihn neben dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und dem Chef des Generalstabs, Waleri Gerassimow, dem Oberbefehlshaber des Einsatzes in der Ukraine, zum Ziel seiner Kritik zu machen.

Es ist üblich, dass Prigoschin Presseanfragen via Telegram und dem russischen sozialen Netzwerk VKontakte beantwortet. Doch die Presseanfrage der Moskauer Tageszeitung „Nesawissimaja Gaseta“ vom Donnerstag macht die ISW-Experten gleich in mehreren Fällen stutzig.

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Darin wird behauptet, dass Patruschew gegenüber Putin angedeutet habe, dass von der Wagner-Gruppe „in anderthalb bis zwei Monaten nichts mehr übrig sein wird“. In dieser existentiellen Not könne Prigoschin seine verbliebenen Kämpfer gegen Russland in Stellung bringen und versuchen, annektierte Gebiete in der Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen.

Um das zu verhindern, habe der Sekretär des russischen Sicherheitsrates bereits die Überwachung ehemaliger Wagner-Kämpfer angeordnet, heißt es in der Anfrage. „Putin stimmte Patruschews Argumenten zu und dankte ihm für die geleistete Arbeit zur Neutralisierung der Söldner von Wagner im Allgemeinen und Jewgeni Prigoschin im Besonderen.“

Die Informationen würden laut der Presseanfrage aus russischen und ukrainischen Telegram-Kanälen stammen. Eine Behauptung, die das ISW nicht verifizieren konnte – auch hatte die „Nesawissimaja Gaseta“ bis zum Erscheinen dieses Textes keinen Artikel zum Thema veröffentlicht. Die Analysten haben jedoch eine andere Theorie, wie die Presseanfrage zu verstehen ist.

Der Mangel an Belegen deute darauf hin, „dass Prigoschin die angebliche Verschwörung erfunden hat“, um den Ruf der Wagner-Gruppe und seinen eigenen zu stärken. Zudem sehen die ISW-Experten die Telegram-Nachricht als Versuch, Patruschew als Feind der Wagner-Gruppe darzustellen und ihn für künftige Misserfolge der Söldner verantwortlich zu machen.

Redaktion distanziert sich von der Presseanfrage

Auch die Reaktion der „Nesawissimaja Gaseta“ auf die Telegram-Nachricht Prigoschins macht stutzig. Die Redaktion erklärte auf ihrer Internetseite, „nichts mit der gefälschten Verbreitung“ der Presseanfrage zu tun zu haben. Die ISW vertritt zwei Theorien: Entweder erhielt der Pressedienst eine gefälschte Presseanfrage oder Prigoschins Unternehmen fälschte die Anfrage selbst. Im Lagebericht vom Freitag heißt es allerdings:

„Das ISW geht weiterhin davon aus, dass Prigoschin das Gerücht in die Welt gesetzt hat, um Patruschew und den russischen Sicherheitsrat als Feinde der Wagner-Gruppe zu identifizieren, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Patruschew für Wagners Versagen in der Ukraine verantwortlich gemacht wird, und die laufenden Informationskampagnen gegen das traditionelle russische Militär zu unterstützen.“

Wagner-Söldner loyal zu Prigoschin

Einen wahren Kern könnte die Geschichte allerdings haben. Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, gibt es unter den Wagner-Söldnern eine „große Loyalität“ gegenüber Prigoschin. Ob diese so weit reicht, sich gegen russische Truppen zu richten, ist unklar. Aber die Kämpfer haben ihm die Freiheit – von teilweise sehr langen Gefängnisstrafen – zu verdanken.

Nach Erkenntnissen der USA kämpfen etwa 50.000 Wagner-Söldner in der Ukraine. Darunter sollen 40.000 aus russischen Gefängnissen rekrutierte Häftlinge sein. In ihren Reihen befinden sich unter anderem Mörder und Diebe. Reuters konnte mehrere Wagner-Söldner identifizieren und interviewte fünf von ihnen:

Es war völlig klar, dass sie sterben würden.

Dimitry Yermakow, Wagner-Söldner

Im Sommer 2022 begann Prigoschin durch russische Gefängnisse zu touren und Gefangene für seine Privatarmee anzuheuern. Vier der Interviewten seien direkt vom Wagner-Chef angeworben worden – darunter auch Rustam Borowkow.

„Ich wusste sofort, dass ich gehen würde, noch bevor er zu uns kam“, zitiert Reuters den ehemaligen Strafgefangenen. Wegen Totschlags und Diebstahls verbüßte er eine 13-jährige Freiheitsstrafe – sieben Jahre hatte er noch vor sich. Mit ihm hätten sich etwa 40 weitere Häftlinge gemeldet.

Ein weiterer Wagner-Rekrut berichtete von einem Häftling, der nur noch wenige Monate bis zu seiner Entlassung hatte – nach einer 25-jährigen Freiheitsstrafe – und sich trotzdem verpflichtete. Reuters konnte die Geschichte nicht verifizieren.

Borowkows einzige Motivation sei die versprochene Freiheit gewesen – nach einer sechsmonatigen Dienstzeit. Das Monatsgehalt von 100.000 Rubel (1225 Euro) – mehr als doppelt so viel wie das russische Durchschnittseinkommen – habe ihn weniger interessiert, erzählte er Reuters.

Zwei bis drei Wochen Training für den Krieg

Die anschließende zwei- bis dreiwöchige Ausbildung sei „auf höchstem Niveau organisiert“ gewesen, die Ausbilder ehemalige russische Elitesoldaten, so Borokow. Bei der Bundeswehr dauert alleine die Grundausbildung drei Monate.

„Man braucht Zeit, um die Grundlagen des Kampfes zu erlernen, eine individuelle Ausbildung zu erhalten und darüber hinaus ein kollektives Training als Einheit zu absolvieren – ein paar Wochen allein bringen nicht viel“, zitiert Reuters den Militärexperten Michael Kofman. Auch militärisches Vorwissen bei einigen Rekruten würde daran nichts ändern.

Ein Standbild aus einem Video, das vom Pressedienst des Gründers der russischen Wagner-Gruppe Jewgeni Prigoschin veröffentlicht wurde, zeigt angeblich Wagner-Kämpfer, die mit einer Fahne auf einem Gebäude in Bachmut.

© REUTERS/CONCORD PRESS SERVICE/Uncredited

Einige der Rekruten hatten die Hoffnung, ihre Dienstzeit einfach absitzen zu können und an so wenig Kampfhandlungen wie möglich teilzunehmen, erzählte Dimitry Yermakow der Nachrichtenagentur Reuters. Der verurteilte Entführer hatte noch vier Jahre einer 14-jährigen Strafe abzusitzen. „Es war völlig klar, dass sie sterben würden.“ Rekruten, die es sich doch anders entschieden, und nicht kämpfen wollten, sei teilweise mit Erschießung gedroht worden, berichtet Reuters.

Seinen letzten Tag an der Front, an dem er verletzt wurde, beschreibt Yermakow als „die reine Hölle“. Trotzdem möchte er sich nach seiner Genesung weiter an Wagner binden, erzählt er Reuters. Die Söldner-Truppe biete unter anderem gut bezahlte Einsätze in Libyen, Syrien oder der Zentralafrikanischen Republik, wird Yermakow zitiert. Im Zivilleben sieht er nur begrenzte Möglichkeiten. Vielen ehemaligen Häftlingen dürfte es ähnlich gehen.

Prigoschin sieht sich von Militärführung hintergangen

Der neuerliche Zwist zwischen Wagner-Chef Prigoschin und der russischen Militärführung folgt auf eine Reihe von Streitigkeiten, die auf Bemerkungen Prigoschins in den ersten Kriegsmonaten zurückgehen.

Seit Monaten macht der Söldner-Chef das Verteidigungsministerium in Moskau für die schleppende „Militäroperation“ in der Ukraine verantwortlich. Anfang Februar 2023 beklagte Prigoschin dann, dass er für seine Söldnertruppe keine Häftlinge aus russischen Gefängnissen mehr anwerben dürfe. Vielmehr beanspruche das Verteidigungsministerium in Moskau diese Rekrutierungsquelle nun für sich, wie die Nichtregierungsorganisation „Russland hinter Gittern“ damals bekannt gab. 

In jüngster Vergangenheit hatte der Wagner-Chef zudem die angebliche Verknappung von Munitionslieferungen an seine Kämpfer in der Ukraine durch das Ministerium und den Generalstab mit „Hochverrat“ gleichgesetzt. Nur um kurze Zeit später zurechtgewiesen zu werden.

In mehreren Audiobotschaften beklagte sich Prigoschin, dass Schoigu und Gerassimow „uns noch immer keine Munition“ geben. Zuletzt drohte er sogar mit dem Abzug aus Bachmut, wenn die Wagner-Söldner keinen Nachschub bekommen sollten.

Resultat der Blockadehaltung in Moskau sei eine hohe Anzahl an Toten unter den Wagner-Kämpfern, die hauptsächlich bei Bachmut eingesetzt sind, erläuterte Prigoschin. „Diejenigen, die uns bei dem Versuch behindern, diesen Krieg zu gewinnen, arbeiten direkt für den Feind“, sagte der Wagner-Chef.

Aus einem offiziellen Schriftstück geht allerdings hervor, dass das russische Verteidigungsministerium wiederum der Wagner-Gruppe vorwirft, „die Munitionsressourcen zu verbrauchen und damit für Mangel an der gesamten Frontlinie zu sorgen“. Der Telegram-Kanal „VChK-OGPU“ hatte den Brief Ende Februar veröffentlicht.

Wagner-Gruppe soll offenbar beseitigt werden

Eine umfassende Analyse des ISW vom vergangenen Wochenende sieht die Rivalität zwischen dem Wagner-Chef und dem russischen Verteidigungsministerium auf ihrem vorläufigen Höhepunkt. Das Ministerium „konzentriert sich derzeit auf die Beseitigung von Wagner auf den Schlachtfeldern“, resümiert die in Washington ansässige Denkfabrik.

Hohe Verluste unter den Söldnern beim Kampf um Bachmut sollen womöglich dazu führen, die Stadt mit regulären Truppen einnehmen zu können und den Einfluss Prigoschins in Russland stetig zu verringern, analysiert der ISW.

Erst kürzlich hat ein Kreml-naher Politologe den Wagner-Chef beschuldigt, dass dessen Ambitionen zur Gefahr für dessen Söldner an der Front werden könnten. Prigoschins Selbstdarstellung als „Kommandeur“ seiner privaten Wagner-Truppe habe „direkte Auswirkungen auf die Planung und das Management der Kampfeinsätze der Sturmtruppen“, schrieb Aleksey Mukhin auf Telegram.

Mukhin bemängelte zudem, dass Prigoschin es versäumt habe, die Unterstützung seiner Söldner durch die russische Militärführung anzuerkennen. Politische Ambitionen Prigoschins seien fehl am Platz.

Der wachsende politische und militärische Einfluss Prigoschins sei möglicherweise auch Kremlchef Wladimir Putin aufgestoßen, schreiben die ISW-Analysten. Kremlbeamte, die anonym bleiben wollten, hätten zudem bestätigt, dass Putin Loyalität der Kompetenz vorziehe. Die Experten untermauern diese Annahme mit der Tatsache, dass Putin seinem Verteidigungsminister und dem Generalstabschef wieder mehr Kompetenzen übertragen habe.

Prigoschin wird in Moskau möglicherweise nur noch als nützlicher „Sündenbock“ angesehen, dem man die hohen Verluste unter seinen Söldnern, „Berichte über schlechte Moral und Kriegsverbrechen“ zuschreiben könne, heißt es in der Analyse. Eine willkommene Ablenkung von ähnlichen Problemen in der russischen Armee.

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