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Jochen Distelmeyer

© Joana Nietfeld

Jochen Distelmeyer im Konzert: Lasst uns Liebe sein

Jochen Distelmeyer präsentiert im Neuköllner Club Hole 44 sein Album „Gefühlte Wahrheiten“.

Als Jochen Distelmeyer im Juli sein Album „Gefühlte Wahrheiten“ veröffentlichte, war die Überraschung groß. Vom Gründer der Band Blumfeld hatte man lange nichts mehr gehört. Seine Gruppe, die zu den wichtigsten Vertretern der sogenannten Hamburger Schule zählte, wurde 2007 mit Aplomb aufgelöst. Da lebte Distelmeyer bereits in Berlin.

Er brachte seine Soloplatte „Heavy“ (2009) heraus, debütierte mit dem Odysseus-Roman „Otis“ (2015) als Schriftsteller und ließ das Album „Songs from the Bottom, Vol. 1“ folgen, auf dem er englischsprachige Stücke von Al Green, Lana Del Rey oder Pete Seeger coverte. Das war’s. Als Songwriter trat er 13 Jahre lang nicht mehr in Erscheinung, was in der kurzatmigen Popwelt mehr als eine halbe Ewigkeit bedeutet. Distelmeyer war dabei, zum Mythos zu werden. War’s das wirklich schon?

Umso größer dann der Triumph des Comebacks. „Gefühlte Wahrheiten“ zeigt auf dem Cover die Außentafeln von Hieronymus Boschs spätmittelalterlichem Triptichon „Garten der Lüste“. Die Erde als Scheibe, umschlossen von der kugelförmigen Hemisphäre, links oben hockt ein kleiner Gott. Alles grau in grau gemalt, eine Grisaille. 

Wieder einmal geht es bei Jochen Distelmeyer um beinahe alles. Welt und Wahn, den Plan der Schöpfung und das Chaos, in dem wir leben. Und Odysseus, die Alter-ego-Figur des Sängers spätestens seit dem Blumfeld-Album „Old Nobody“, kommt natürlich auch wieder ins Spiel.

Der Titel „Gefühlte Wahrheiten“ ließ Gesellschaftskritik vermuten. Zerstörung reimt sich hier zwar auf Verschwörung, doch Hater im Netz und Maschinen, die kein Glück geben, kommen bloß am Rand vor. Mehr geht es um die Wahrheit der Gefühle, und darüber singt Distelmeyer einige der schönsten Songs der Saison.

Als Jochen Distelmeyer am Dienstagabend auf die Bühne des ausverkauften Neuköllner Clubs Hole 44 kommt, um „Gefühlte Wahrheiten“ zu präsentieren, wirkt es so, als sei er eigentlich nie weg gewesen. Er ruft „Hi!“ und „Wahnsinn, Berlin!“ in den Jubel, schnallt sich eine Akustikgitarre um und performt „Zurück zu mir“, einen hymnenhaften Song, der von Abgrenzung und Neustart erzählt.

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Auf „Lass uns Liebe sein“ folgt die Liebesabschiedsballade „Hey Dear“ und mit „Kismet“ ein noch unveröffentlichtes Lied, das Distelmeyer, wie er sagt, erst einmal mit Band auf der Bühne ausprobieren möchte. Eine Begegnung, im Refrain besungen als verheißungsvolle Alliteration: „Karma, Kairos oder Kismet“? Unklar, wie es weitergehen wird.

Live lässt sich das cremige, an opulenten Produktionen der Siebzigerjahre erinnernde Klangbild des Albums nicht eins zu eins reproduzieren. Mit seiner neu formierten, deutlich verjüngten Begleitband wirkt Distelmeyer wuchtiger. Keyboardgirlanden des Organisten Alexander von Hörsten ersetzen Streicher, der zweite Gitarrist Daniel Florey glänzt mit präzis gesetztem E-Gitarren-Lärm.

Schlichweg großartig ist, wie sie mit dem Bassisten Lars Coelln und Schlagzeuger Hanno Stick aus „Im Fieber“, einer erhitzten Bestandsaufnahme von Umwelt und Beziehung, eine Funk- und Disconummer machen, die prinzipiell endlos weitergrooven könnte.

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Distelmeyer trägt ein buntes Hippiehemd zum nachtblauen Anzug, er huldigt Aretha Franklin und Donny Hathaway, ist lässiger Crooner und ein Soul-Schmachter, der die Endsilben kunstvoll auskostet. Bei „Ich sing für dich“, einem Talking Blues mit Liedermacher-Färbung, klingt er wie eine Mischung aus Bob Dylan und dem jungen Peter Maffay.

„Ich sing für dich, wenn du nicht weißt, wo deine Leute sind, und rings um dich nur Krieg und Krise tobt“, heißt es im Text des von Akustikgitarren-Akkorden getragenen Trostliedes. „Nur der Mond“, eine himmelhochjauchzende Piano- und Gitarrenballade, knüpft an das Erbe von Rio Reisers „Junimond“ an.

Mit „Eintragung ins Nichts“, „Tics“ und „Anders als glücklich“ spielen Distelmeyer und seine Begleiter drei Blumfeld-Klassiker nacheinander, ein Postrock-Block, der auf Vorbilder wie Pavement und Wilco verweist. „Wer kennt Axel Zwingenberger?“, fragt Distelmeyer.

Den Hamburger Pianisten mit Pilzkopf-Frisur kennt im Hole 44 kaum jemand, nur wenige Zuschauer:innen melden sich. Eine Boogie-Woogie-Nummer spielt die Band dann trotzdem. Als Zugabe dann noch, wie Distelmeyer sagt, sein „umstrittenster Song“, der „Apfelmann“. Lachend zeigt er auf sich. John Lennon war das Walross. Distelmeyer ist der Apfelmann.

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