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Gegen den Diktator. Demonstrant in Santiago de Chile am 50. Jahrestag des Putsches von Augusto Pinochet am 11.9.1973.

© IMAGO/ZUMA Wire/IMAGO/Cristobal Basaure Araya

50 Jahre Militärputsch: Die chilenische Kultur hat überlebt

Mit seinem Putsch konnte General Augusto Pinochet den Geist des Landes nicht niederknüppeln. Eine Erinnerung an die Widerstandskräfte der Kulturschaffenden Chiles.

Von Peter B. Schumann

Keine Frage: Pinochet und seine Generäle hatten bei ihrem brutalen Putsch besonders die Kultur im Visier, denn nie zuvor in der Geschichte Chiles hatte sich die große Mehrheit der Kulturschaffenden für ein politisches Projekt wie Allendes demokratischen Sozialismus derart engagiert. Also musste reiner Tisch gemacht und am besten gleich „das Übel“ mit der Wurzel ausgerissen werden.

In Santiago wurden in den ersten Tagen bereits sämtliche Kulturzentren, Galerien, Theater, Kinos, Malwerkstätten, Konzerthäuser geschlossen, linke Institutionen jeder Art geschl, viele ihrer Mitglieder verhaftet und im Nationalstadion, dem ersten Konzentrationslager der Putschisten, kaserniert, oft gefoltert und nicht selten ermordet.

Die Universitäten wurden gesäubert, und der Staatsverlag Quimantú, der Weltliteratur zum Preis von einer Schachtel Zigaretten in hohen Auflagen publiziert hatte, wurde enteignet, die meisten seiner Bücher verbrannt. Auf den Scheiterhaufen gingen außerdem Fotos, Plakate, Schallplatten, Kunstwerke und manche Filme in Flammen auf.

Alles, was in den drei Jahren der Unidad Popular aus dem kleinen „Land der Poesie“ eine der aufregendsten Kulturlandschaften Lateinamerikas gemacht hatte, zerstörten die Militärs in drei Tagen. Einen vergleichbaren Kahlschlag hat sich keine der Diktaturen auf dem Kontinent je geleistet.

Doch zwei Wochen nach dem Putsch regte sich bereits Protest. Hunderte von Chileninnen und Chilenen begleiteten den Sarg des verstorbenen Pablo Neruda zum Friedhof, vorbei an schwer bewaffneten Soldaten und stimmten die Hymne der Unidad Popular an: „Das vereinte Volk wird nie besiegt!“ Trotz unabsehbarer Folgen riskierten die Menschen diesen ersten öffentlichen Akt des Widerstands gegen das Gewaltregime, das ihren größten Dichter am liebsten irgendwo still vergraben hätte.

Die Massen, die die Regierung der Volkseinheit einst mobilisierte, waren durch den fortgesetzten Terror und die ständigen Ausgangssperren von den Straßen verschwunden. Sie blieben jedoch in privaten Zirkeln mobil und verwandelten ihre politische Vitalität in künstlerische Kreativität, in eine Kunst der Selbstbehauptung, eine Kunst des Widerstands.

In kleinen Gruppen sangen sie weiter die politischen Lieder und spielten auf den verbotenen Instrumenten. Sie machten Theater, die Pantomime stand hoch im Kurs, oder sie trafen sich zu Dichterlesungen, von einer „Blüte der Volkspoesie“ war sogar die Rede. Eine alte Kunstfertigkeit lebte wieder auf: die arpilleras, die aus Resten kunstvoll gefertigten Stoffbilder, auf denen meist Frauen in den Armenvierteln ihre bittere soziale Lage darstellten. Über das Vikariat der Solidarität der katholischen Kirchen fanden sie großen Absatz.

Innerhalb der katholischen Kirche existierte ein gewisser Freiraum, weil die Generäle, allen voran Pinochet, gern ihre Gläubigkeit zur Schau stellten. So wagten sich im Dezember 1975 katholische Organisationen an einen Kulturabend zur Unterstützung notleidender Kinder. Sie mieteten dazu das riesige Teatro Caupolicán. Als Eintrittspreis musste ein Spielzeug gespendet werden. Eine Vielzahl von weniger „kompromittierten“ Folklore-Ensembles, Dichtern und Schauspielern trat in dem stundelangen Programm unter dem Leitmotiv „Frieden, Freundschaft, Solidarität“ auf. Diese erste, nicht offizielle Massenveranstaltung wurde von der regimetreuen Presse totgeschwiegen, eine Fortsetzung nicht erlaubt.

Die Chileninnen und Chilenen bewiesen eine grenzenlose Kreativität, um das verordnete Schweigen zu unterlaufen. Sie nutzten und erweiterten die verbliebenen Nischen und schufen kleine Kunstgalerien, Kammermusik-Ensembles oder Literaturclubs. Dabei nahmen sie die ständige Gefahr auf sich, zensiert, verboten oder sogar vernichtet zu werden – wie die Galerie Paulina Waugh in Santiago. Sie hatte sich als ein Zentrum der neuen, meist kritischen Kunst einen Namen gemacht. Während einer nächtlichen Ausgangssperre im Januar 1977 wurde eine Brandbombe in ihren Raum geworfen und zerstörten zahllose Bilder sowie die benachbarte „Werkstatt 666“ für Schauspiel-, Musik- und Kunstunterricht.

Geliebt und umstritten. Pablo Neruda, der moderne Nationaldichter Chiles, um 1972 vor seinem Haus in Isla Negra.

© imago/Leemage

Wenig später ging sogar ein Theaterzelt in Flammen auf. Jaime Vadell, einer der berühmtesten chilenischen Theatermacher und -schauspieler hatte Texte von Nicanor Parra zu dem Stück Feigenblätter verarbeitet, eine für den Autor typische Burleske mit anarchistischen Tendenzen. Die Rechtspresse schäumte. Tage danach verbot das Gesundheitsamt „aus hygienischen Gründen“ jede weitere Aufführung. Als die Theaterleute nach Erfüllung sämtlicher Auflagen wieder starten wollten, zerstörte ebenfalls eine Brandbombe ihr Zelt.

Dennoch hat sich auch das chilenische Theater behauptet. Das traditionsreiche Ictus versuchte sich zunächst an der anspielungsreichen Interpretation von Klassikern und hielt sich dann vor allem mit Komödien voller kritischer Seitenhiebe über Wasser.

Als sich die kulturpolitische Lage Anfang der 1980er Jahre etwas entspannte, führte der Theaterregisseur Juan Radrigán sein Stück Hechos consumados (Vollendete Tatsachen) auf, ein bitteres Drama über die Massenarbeitslosigkeit im neoliberalen Wunderland Chile. Der Dramatiker Marco Antonio de la Parra fasste die gesellschaftliche Wirklichkeit surrealistisch in „Lo crudo, lo cocido, lo podrido“ (Das Rohe, das Gekochte, das Verfaulte) und musste fünf Jahre bis 1983 auf seine Aufführung warten.

Der Film als teures Massenmedium war einer der wenigen Bereiche, der erst Ende der Diktatur mit kritischen Beiträgen wieder in Erscheinung trat wie „Imagen latente“ (Latentes Bild) von Pablo Perelman, ein autobiografisch geprägter Spielfilm über den Fall eines Verschwundenen. Und es war eine Gruppe von Filmregisseuren, die mit ihrem Wahlspot „Franja del NO“ wesentlich zu Pinochets Niederlage bei der Volksabstimmung 1988 beigetragen hat.

Der chilenische Film überlebte: im Exil. Wie viele Kulturschaffende mussten auch zahlreiche Filmemacher emigrieren und fanden im Ausland dank einer einzigartigen internationalen Solidarität neue Arbeitsmöglichkeiten. Hier konnte etwa Patricio Guzmán „La Batalla de Chile“ (Die Schlacht um Chile) fertigstellen: sein dreiteiliges Meisterwerk über das letzte Regierungsjahr Allendes, ein Filmklassiker, der in der Arte-Mdiathek zu sehen ist.

In den ersten zehn Jahren des Exils entstanden bereits 178 meist regimekritische Filme aller Kategorien, mehr als jemals zuvor in einem vergleichbaren Zeitraum – ein einzigartiges Phänomen in der Geschichte der Kinematografie.

Mit beispielloser Kreativität hat die chilenische Kultur dazu beigetragen, die Diktatur zu überwinden, und die Basis gefestigt, auf der sie in der Demokratie wieder florieren konnte.

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