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Die britische Musikerin PJ Harvey.

© Steve Gullick

Album „I Inside The Old Year Dying“ von PJ Harvey: Durch die Wälder streunen

Auf „I Inside The Old Year Dying“ besinnt sich PJ Harvey auf ihre Heimat Dorset. Sie singt in einem schwer verständlichem Dialekt, lässt Gitarren krachen und fragt: Ist Elvis Gott?

Es wäre naheliegend gewesen, sich gerade jetzt noch einmal mit dem Krieg auseinanderzusetzen und all den Verwerfungen, die er mit sich bringt. Auf ihrem vor zwölf Jahren erschienen vorletzten Album „Let England Shake“ beschäftigte sich Polly Jean Harvey immerhin mit dem britischen Empire, das seine einstige globale Macht auf die blutige Unterwerfung anderer Nationen aufbaute.

Ein „Kriegsalbum“ nannte das britische Popmagazin NME die Platte. Und für die Aufnahmen ihres bislang letzten musikalischen Großwerks „The Hope Six Demolition Project“, das 2016 erschienen ist, besuchte Harvey unter anderem den Kosovo und Afghanistan, also von Kriegen und einfach nicht enden wollenden Konflikten gezeichnete Orte. Es waren die ganz großen politischen Themen, die die britische Musikerin und Sängerin hier in opulente und musikalisch überaus dramatische Songs übersetzte.

Doch von PJ Harvey, die mit „I Inside The Old Year Dying“ gerade ihr zehntes Album veröffentlicht hat, bekommt man einfach nicht das Erwartbare. Und stattdessen nun einen Rückzug aus der so ungemütlich gewordenen Welt da draußen und eine Hinwendung zur Introspektive. Dabei aber auch zu nicht minder existenziellen Fragen, wie sie auf den Vorgängeralben aufgeworfen wurden. Wer bin ich? Wo komme ich her? Und nicht zuletzt, wie es in dem Song „Lwonesome Tonight“ in einer Zeile heißt: „Are you Elvis? Are you God?“

Mit der Suche nach Antworten darauf schlägt sich PJ Harvey nun herum, oder sollte man besser sagen: PJ Harvey als von ihr geschaffene Kunstfigur Ira-Abel, einem neunjährigen Mädchen? Diese Figur stammt aus Harveys im vergangenen Jahr erschienen zweiten Gedichtband „Orlam“ und lebt nun fort auf ihrer neuen Platte. Die Gedichte wurden verfasst im Dialekt der Grafschaft Dorset in Südwest-England, wo Harvey aufgewachsen ist.

Und in diesem teilweise nur schwer zu verstehenden Idiom singt sie streckenweise auch auf ihrer Platte. Das Mädchen aus ihrem Poesie-Band streunt durch die Wälder und die wilde Natur, erlebt aber keine behütete Kindheit, sondern verliert sich in einer Umgebung, die von unheimlichen Geistern, nicht zuletzt vom auch hier bereits auftauchenden Elvis, und sexueller Perversion heimgesucht wird. Diese verwunschene Welt der Ira-Abel, in der sie sich wohl einst selbst bewegte, besingt Harvey.

In einem Interview hat sie davon gesprochen, dass es bei diesem Konzept bestimmt folgerichtig gewesen wäre, nun auch ihre Musik in Richtung englische Folkmusiktradition zu trimmen. Vielleicht, um irgendetwas mit Flöten und Dudelsäcken anzustellen.

Aber, wie gesagt, Harvey umgeht aus Prinzip das Offensichtliche. Die Natur holt sie sich lieber über field recordings in ihre Aufnahmen. So hört man beispielsweise in „A Noiseless Noise“ echtes Vogelgezwitscher, das dann aber nur das Intro in den rockigsten Song eines insgesamt im Vergleich zu den letzten Platten ruhigen Albums bildet. Die sich damit ziemlich schnell wieder verflüchtigende Naturbezogenheit ist, wie bereits bei „Orlam“, keine Metapher für das Unberührte.

Reinheit und Unschuld, all dem scheint PJ Harvey mehr zu misstrauen denn je, beides existiert womöglich gar nicht. Noch nicht einmal ihre so ausdrucksstarke Stimme soll durchgehend klar klingen. Zu Beginn von „The Nether-Edge“ klingt sie so verfremdet und verzerrt, als käme sie von einem der Geister, auf die das Mädchen Ira-Abel trifft.

In den letzten drei Dekaden hat sich PJ Harvey von einem sich nicht selten selbstzerfleischenden Indierockstar zur Großkünstlerin sondergleichen gewandelt hat. Das konnte man kürzlich noch einmal nachvollziehen, als hr Gesamtwerk, beginnend mit dem rohen Debüt „Dry“ aus dem Jahr 1992 unter Einbezug vieler Demoversionen, neu herausgebracht wurde.

Erkennen lässt sich hier die Entwicklung eines Popstars, der dem Alternative-Rock-Segment zugerechnet wurde, hin zu einer ewig enigmatischen Künstlerin, die sich mit der Zeit immer stärker auf Einflüsse aus Filmen, Lyrik, Shakespeare und Bildender Kunst berief und die spätestens seit „Orlam“ nun weit mehr ist als bloß eine außergewöhnliche Musikerin.

Zu diesem Prozess gehört auch, dass sie seit einer ganzen Weile schon eine Art künstlerische Familie um sich schart. So sindihr langjähriger musikalischer Partner John Parish und der Produzent Flood bei „I Inside The Old Year Dying“ wieder mit dabei. Und tragen dazu bei, dass Harvey erneut ein überraschender Wurf gelungen ist. Ein Stück weit aber auch eine PJ-Harvey-Platte, bei der zumindest musikalisch nicht alles umgeworfen wird, was bislang galt.

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