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Itamar Gov, Chemistry and Physics in the Household, exhibition view at Zilberman | Berlin, 2023, courtesy of the artist and Zilberman, Istanbul/Berlin.

© Itamar Gov, Courtesy of the artist & Zilberman, Istanbul/Berlin. Foto: Croma

Ausstellung „Chemie und Physik im Haushalt“: Technologie außer Kontrolle

Der Künstler Itamar Gov wirft in Berlin einen kritischen Blick auf technologischen Fortschritt und Wissenschaft. Sein Ausgangspunkt: ein Selbstmord.

Bereits 1962 sprach der fiktive Wissenschaftler Möbius erstmals die bedeutungsschweren Worte: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“ Friedrich Dürrenmatt appellierte in seinem Stück „Die Physiker“ an die Verantwortung der Wissenschaft. In Zeiten der künstlichen Intelligenz, dem Streben zum Mars und einer Gesellschaft, die sich Fortschritt, Innovation und Effizienz verschreibt, könnte es ratsam sein, sich auf diesen Appell zu besinnen.

Genau dies tut der Künstler Itamar Gov in der Ausstellung „Chemistry and Physics in the Household“. Mit der peniblen Detailtreue eines Archivars wühlt sich der 34-Jährige durch wissenschaftliche, historische und literarische Quellen und erforscht versteckte Zusammenhänge. Daraus erstellt er eine komplexe Mindmap, die sowohl Licht- als auch Schattenseiten von Technologie und Wissenschaft beleuchtet.

Der Farbstoff „Berliner Blau“

Das Schaubild verknüpft das alchemistische Manuskript „Splendor Solis“ von 1582 mit dem Selbstmord der Chemikerin Clara Immerwahr im Jahr 1915. Es stellt eine Verbindung zwischen E. T. A. Hoffmanns abgründiger Erzählung „Der Sandmann“ und dem ersten geklonten Schaf „Dolly“ her, und findet den von Alchemisten hergestellten Farbstoff „Berliner Blau“ an den Wänden des Konzentrationslagers in Auschwitz.

Itamar Govs Mindmap verwebt historische und aktuelle Ereignisse.

© Itamar Gov, Courtesy of the artist & Zilberman, Istanbul/Berlin

„Fortschritt und Ethik gehören zusammen“, erklärt Gov bei der Eröffnung seiner Ausstellung, „und an vielen Punkten der Geschichte standen Menschen an einem Scheideweg.“ Als Beispiel nennt er den Chemiker Fritz Haber. Seine Forschung legte den Grundstein zur Massenproduktion von Stickstoffdünger, wofür er 1918 den Nobelpreis für Chemie erhielt. Doch er änderte seinen Fokus und ermöglichte den Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg.

Fritz Habers Ehefrau, Clara Immerwahr, war selbst promovierte Chemikerin und hielt eine Vorlesungsreihe für Frauen über Physik und Chemie im Haushalt. Nach ihrer Heirat mit Haber musste sie ihren Beruf aufgeben. Die Ehe verlief unglücklich. Habers Rolle als „Vater des Gaskriegs“ soll Immerwahr in den Selbstmord getrieben haben.

Itamar Gov stieß in Archiven auf eine winzige Ankündigung zu Immerwahrs Vorlesungsreihe. Sie fesselte ihn und war Ausgangspunkt für eine viermonatige Recherche. „Ich wollte wissen, was es mit „Fräulein Doktor Immerwahr“ auf sich hatte und habe angefangen nachzuforschen. Ich bin von einem Thema zum nächsten gekommen und habe gemerkt, wie alles zusammenhängt“, sagt Gov. Da sie den Anstoß gab, habe er beschlossen, die Ausstellung nach ihr zu benennen.

Der Künstler Itamar Gov wurde in Tel Aviv, Israel, geboren und lebt seit über zehn Jahren in Berlin.

© Itamar Gov

Gov studierte Literatur, Geschichte und Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin, an der Sorbonne in Paris und der Università di Bologna. Vor seiner Arbeit als Künstler war er vor allem als Kurator tätig, zum Beispiel bei der Documenta 14 in Kassel und Athen oder im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. „Ich mag es, Dinge zu sammeln, zu kombinieren und in neuem Licht zu betrachten. Eine Sache kann für vieles stehen. Das steckt auch in dieser Ausstellung“, sagt er.

Mikrogeschichten werfen große Fragen auf

Gov verwendet Mikrogeschichten, wie die von Clara Immerwahr und Fritz Haber, um ein größeres Thema aufzuspannen. Fortschritt kann furchteinflößend sein, doch müsse er deshalb nicht aufhören. Vielmehr wolle Gov zum Nachdenken anregen: Gerät Technologie außer Kontrolle? Wie könnte ein verantwortungsbewusster Umgang aussehen?

Blick in Itamar Govs Ausstellung mit dem der Installation „The Nursery“.

© Itamar Gov, Courtesy of the artist & Zilberman, Istanbul/Berlin

Die vier Installationen seiner Ausstellung bezeichnet Gov als „immersive Fabrik des menschlichen Körpers“. Jedes Werk lässt sich als Teil einer Geschichte lesen, wie eine eingefrorene Filmszene, und die Interpretation verschiebt sich, je nachdem von welchem Standpunkt in der Zeit es betrachtet wird. Gov verdeutlicht so auf beeindruckende Weise, wie der historische Kontext den Blick auf eine wissenschaftliche Errungenschaft verändern kann.

Der junge Künstler probiert gern Materialien aus, mit denen er noch nie gearbeitet hat. Für die Installation „Olympia“ fertigte Gov diverse Körperteile aus Gips. Sie ähneln Teilen einer Marmorstatue, sind jedoch auf einem Operationstisch angeordnet. Auf Instagram teilt er ein Foto von zwölf Gehirnen in seinem heimischen Backofen. Er sagt: „Für die Ausstellung hatte ich nun also tatsächlich Chemie und Physik in meinem Haushalt.“

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