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Regisseur Milo Rau, Schaubühne, Berlin

© Mike Wolff, TSP

Bereit sein für einen Globalen Realismus: Essays des Theatermachers Milo Rau

In seinem Band „Die Rückeroberung der Zukunft“ entwirft er eine Poetik als „Praxis des Realen“ und kritisiert die Performancekünstlerin Marina Abramović.

Es ist in Künstlerkreisen unüblich geworden, Kollegen zu kritisieren. Auf Premierenpartys oder Vernissagen lästert man freilich noch wie eh und je, in der Öffentlichkeit jedoch gelten die Werke der anderen, sofern keine politischen Fehltritte vorliegen, stets als mindestens so interessant und inspirierend wie die eigenen. Es ist insofern erfrischend, wie direkt Milo Rau die Performancekünstlerin Marina Abramović angeht. Ihre Kunst möge extrem sein, aber nicht radikal, schreibt der Schweizer Theatermacher in seiner Poetik „Die Rückeroberung der Zukunft“.

„Nur eine reale Schnittwunde ist eine Verletzung, nur stundenlanges Starren ist Kontemplation“, fasst er entnervt das Programm zusammen, mit der die Serbin zur First Lady der Performancekunst avancierte, und entgegnet: „Die Kunst“, also die für Rau richtige Kunst, „ist aber der Ort, an dem die Dinge symbolisch geschehen und trotzdem real sind“.

Freude an der eigenen Verwegenheit

Ein Paradebeispiel hierfür dürfte seine Arbeit „Das Kongo-Tribunal“ sein, ein inszenierter Gerichtsprozess, der vor Ort den Verbrechen des Bürgerkriegs nachging. Oder sein Filmprojekt „Das Neue Evangelium“, das die Geschichte Jesu mit einem Ensemble aus Geflüchteten im süditalienischen Matera nachspielte. Nicht ohne Freude an der eigenen Verwegenheit erklärt er, im ersten Falle mit korrupten Eliten kooperiert zu haben, im zweiten mit der Mafia. Auch Alexander Dugin, der Chefideologe des Putin-Regimes, sei ihm aus einem Projekt zu russischen Schauprozessen bekannt.

Arbeiten wie diese riefen natürlich regelmäßig Kritik hervor. Ist das nicht nur ein neuer Kolonialismus, der ferne Tragödien ästhetisch ausschlachtet? Werden die Opfer hier nicht vorgeführt? Was weiß dieser wohlbehütete Schweizer überhaupt von all den Orten, an denen er mit seinem Team aufschlägt, von den Landlosen in Brasilien, den Kriegsopfern in Mossul, von den russischen Dissidenten?

Er weiß ganz genau, dass er das nicht darf

Oder grundsätzlich gefragt: Darf er das? Nein, natürlich nicht. Und das weiß er auch selbst, genau deshalb tut er es. Er versucht die Widersprüche der Gegenwart sichtbar zu machen, in dem er sich in sie verstrickt, auch indem er Schuld auf sich lädt.

Mit Rau könnte man sagen, selbst als Abramović in Gedenken an die Opfer des Jugoslawienkriegs 24 Stunden Rinderknochen polierte, hat sie sich nicht die Hände schmutzig gemacht. Sie hat die Wirklichkeit nur bestätigt, hat nicht interveniert, wie er es sich zum Ziel setzt. Kunst ist für ihn mithin ein Griff in die Mechanik der Welt, auf dass diese eine andere werde. Dementsprechend kräftig fällt mitunter das Pathos aus: „Die heutigen Besitzverhältnisse werden über Nacht ihre Gültigkeit verlieren, unsere Gewissheiten in Unordnung geraten. Alles, was zählt, ist: bereit sein, gemeinsam.“

Nicht nur streitbarer Künstler, Intendant der Wiener Festwochen und TV-Literaturkritiker will er also sein, sondern auch noch Prophet. Und ein kosmopolitischer Intellektueller sowieso. Rau argumentiert mit Anleihen bei Karl Marx, dass sich Wohlfahrtsstaat und Demokratie nur deshalb im Westen etablieren konnten, weil der Kapitalismus im globalen Süden ungezügelt wüten durfte und darf.

Poetik als „Politik der Praxis“

Der „Globale Realismus“, den er vertritt, führt die ausgelagerten Konflikte innerhalb seiner Projekte wieder mit allen Beteiligten an einem gemeinsamen Ort zusammen. „Externalisierte Widersprüche werden zu geteilten Widersprüchen, theoretische Debatten über Rassismus zu realen Streitigkeiten, biographische Verletzungen treffen aufeinander.“

Auch die Zürcher Poetikvorlesungen, die er im November 2022 hielt und die der Band in weiten Teilen wortgetreu dokumentiert, kam nicht ohne einen Einbruch des Realen aus. Rau, der die Poetik als eine „Politik der Praxis“ bezeichnet, nutzte sie zur Inszenierung eines kleinen Skandals. Im letzten Teil der Reihe forderte er, Schepenese zu befreien. Die altägyptische Mumie liegt in der St. Gallener Stiftsbibliothek aufgebahrt und kann dort besichtigt werden. Unwürdig sei das, und überhaupt: Warum sollte die Frau aus Ägypten im Alpenstaat ruhen wollen?

Die folgende Debatte verlief wohl eher enttäuschend für den notorischen Unruhestifter. Zwar erhielt er einigen Zuspruch, sogar aus der Politik. In Kairo scheint man indes nicht wild entschlossen, die alte Dame zurückzuführen. Eine offizielle Forderung liegt jedenfalls noch nicht vor. Gelungen ist die Aktion dennoch, als humorvoller Appendix seiner Poetik. Im Rahmen einer Aktion fuhren Rau und seine Unterstützer einen Appenzeller Heuwagen, darauf ein ägyptisches Totenschiff, von der Stiftsbibliothek zum Bahnhof.

Auch das ist wohl mit Globalem Realismus gemeint: die Probleme, Verantwortlichkeiten und Schuldverhältnisse eines Staats, einer Kultur, eines Erdteils öffentlich in Bezug zu anderen bringen, oder wie hier: das Totenschiff auf den Heuwagen laden.

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