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Nafissatou Cissé in „Sira“ von Apolline Traoré.

© Les Films Selmon

Das Panorama der Berlinale: Aufbruch, Rache und viel Queeres

Die 35 Spiel- und Dokumentarfilme der Panorama-Sektion erzählen von widerständigen Frauen, vergessenen Konflikten und schwuler Selbstfindung. Mit Stars wie Franz Rogowski, Sandra Hüller und Ben Whishaw.

„Alle kommen und alle wollen alles“, sagt Michael Stütz lachend in seinem Büro am Potsdamer Platz und fasst so die Aufbruchstimmung in der von ihm geleiteten Panorama-Sektion zusammen. Schon früh haben er und sein Team bei den Sichtungen gemerkt, dass die Filmemacher*innen der Berlinale nach den Jahren der Corona-Beschränkungen mit hohen Erwartungen und viel Hoffnung entgegensehen – und vor allem auch persönlich zum Festival kommen wollen.

Die Auswahl sei selten so schwer gefallen, sagt Stütz. Und selten habe das Panorama schon im Frühsommer so viele Filme eingeladen. „Es gab viele harte Entscheidungen und auch längere Diskussionen als sonst.“ Die Idee, das Programm auf 30 Werke zu beschränken, wurde schnell wieder verworfen, nun sind 35 Spiel- und Dokumentarfilme im Panorama zu sehen, wobei fast Parität bei den Regisseur*innen zu verzeichnen ist: 19 Frauen und 21 Männer sind dabei.

Zur Eröffnung läuft der Animationsfilm „La Sirène“ der in Frankreich lebenden Iranerin Sepideh Farsi, der 1980 zu Beginn des Iran-Irak-Kriegs spielt. Aus der Sicht des 14-jährigen Omid, der in der belagerten iranischen Ölmetropole Abadan auf die Rückkehr seines älteren Bruders von der Front wartet, erzählt Farsi von Mitmenschlichkeit und Widerständigkeit im Angesicht der Gewalt – auch heute im Iran aktuelle Themen. Zu den wichtigsten Berlinale-Beiträgen mit Blick auf den Iran gehört gewiss „And, Towards Happy Alleys“ von der indischen Regisseurin Sreemoyee Singh. Sie schaut nicht nur auf die Poesie der feministischen Dichterin Forugh Farrokhzad, sondern hat auch prominente Regimekritiker*innen aufgesucht, unter anderem Jafar Panahi und die Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh - die beide zuletzt wieder im Gefängnis saßen.

Panorama-Leiter Michael Stütz.

© Ali Ghandtschi

Ein iranischer Exilant steht in Milad Alamis „Opponent“ im Zentrum: Iman ist aus Angst vor Verfolgung mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern nach Schweden geflohen. Als ihr Verbleib dort gefährdet ist, nimmt er seine alte Tätigkeit als Wrestler wieder auf, um eine Sonderaufenthaltsgenehmigung für Sportler zu bekommen. Was ihn allerdings weiter von seiner Frau entfernt, denn das Training entfacht auch unterdrückte Sehnsüchte bei ihm.

Einige Panorama-Filme nehmen Kriegs- und Krisenregionen in den Blick. Die Dokumentation „Iron Butterflies“ beschäftigt sich mit dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs MH17 durch Separatisten 2014 über dem Donbass, der indische Spielfilm „Ambush“ thematisiert den im Westen völlig ignorierten Bürgerkrieg zwischen den kommunistischen Naxaliten und der indischen Zentralregierung und „The Burdened“ schaut auf die Nöte einer Familie im Bürgerkriegsland Jemen, die durch eine ungewollte Schwangerschaft ins Unbewältigbare zu wachsen drohen. Um dieses Werk von Amr Gamal hat sich Stütz ganz besonders bemüht, wie er sagt. Denn es ist ihm wichtig, die Aufmerksamkeit immer wieder auf hierzulande wenig beleuchtete Weltgegenden zu lenken.

Dazu gehört auch das westafrikanische Burkina Faso, wo Apolline Traorés Spielfilm „Sira“ angesiedelt ist. Die gleichnamige Titelheldin ist eine Nomadin, die auf der Fahrt zu ihrer Hochzeit von einer Gruppe islamistischer Terroristen entführt und misshandelt wird. Doch sie bleibt nicht in der Opferrolle – im Gegenteil.

Jules (Nathan Stewart-Jarrett) im Rache-Thriller „Femme“.

© Agile Films

Menschen, die sich wehren oder sogar Rache nehmen, tauchen in mehreren Panorama-Werken auf. Das ist auch im erwähnten „Ambush“ der Fall sowie im koreanischen Thriller „Green Night“ und ganz besonders in „Femme“ von Sam H. Freeman und Ng Choon Ping, die in ihrem Regiedebüt von der Drag Queen Jules erzählen, die eines Nachts – sie geht in ihrem Outfit kurz Zigaretten holen– brutal zusammengeschlagen wird. Monate später trifft Jules den Täter in einer Schwulensauna wieder und schmiedet den Plan, es ihm heimzuzahlen.

„Femme“ gehört zu den 16 Werken mit queerem Bezug im Panorama, wobei schwule Perspektiven etwas stärker repräsentiert sind als das restliche LGBTIQ-Spektrum. So zeichnet Hannes Hirschs „Drifter“ den Weg eines 22-jährigen Neu-Berliners in die schwule Club-Szene nach und „All the Colours of the World Are Between Black and White“ von Babatunde Apalowo die schwierige Annäherung von zwei jungen Männern im nigerianischen Lagos. Mit einiger Starpower geht „Passages“ von Berlinale-Stammgast Ira Sachs an den Start: Franz Rogowski spielt einen Filmregisseur, der seit 15 Jahren mit einem Künstler (Ben Whishaw) verheiratet ist und plötzlich eine Affäre mit einer Frau (Adèle Exarchopoulos) beginnt. Dabei reißt er alle drei in seinen Strudel aus Selbstsucht, Sex und Sehnsucht.

Sisi (Susanne Wolff, links) mit den Hofdamen Irma (Sandra Hüller, Mitte) und Fritzi (Sophie Hutter).

© Walker+Worm Film GmbH & Co. KG/Bernd Spauke

„Silver Haze“ von Sacha Polak ist ein hartes britisches Sozialdrama, in dem sich eine Krankenschwester und eine Patientin ineinander verlieben. Was ebenfalls einen fatalen Sog erzeugt, in dem das Thema Wahlverwandtschaft jedoch hoffnungsvoller verhandelt wird als in „Passages“. Zwei Dokumentationen rücken trans Frauen ins Zentrum: „Transfariana“ von Joris Lachaise verfolgt die Liebesgeschichte einer ehemaligen Sexarbeiterin und eines Farc-Rebellen, die in einem kolumbianischen Gefängnis beginnt. Und D. Smith porträtiert in ihrem schwarz-weiß gedrehten Regiedebüt „Kokomo City“ vier Sexarbeiterinnen aus New York und Georgia.

Einer der stillsten und zugleich bewegendsten Panorama-Dokumentarfilme ist Maite Alberdis „The Eternal Memory“ aus Chile. Im Zentrum steht der Journalist Augusto Góngora, der viele Jahre über die Gräueltaten des Pinochet-Regimes berichtete und gegen das Vergessen der politischen Gewalt anschrieb. Nun vergisst er selbst, seine Alzheimer-Krankheit schreitet immer weiter fort. Seine Ehefrau Paulina Urrutia, Schauspielerin und einige Jahre Kulturministerin des Landes, entreißt ihn, sein Werk, ihren gemeinsamen Kampf und ihre Liebe Tag für Tag dem Gedächtnisschwund. Politische und private Erinnerungsarbeit: „The Eternal Memory“ ist vor allem eine Hommage an die Kraft der Liebe.

In den aktuellen Sissi-Hype passt Frauke Finsterwalder mit ihrem zweiten Spielfilm „Sisi und ich“, wobei ihre Sicht auf die Kaiserin von Österreich-Ungarn eine konstante queere Unterströmung besitzt. Allein wegen Susanne Wolff und Sandra Hüller lohnt sich der Kinobesuch. Und Georg Friedrich als schwuler Schwager ist eine ganz eigene Show.

Die dritte deutschsprachige Produktion im Panorama ist „Das Lehrerzimmer“. Vollständig in einem modernen Schulgebäude angesiedelt, erzählt der Berliner Regisseur İlker Çatak von einer motivierten Lehrerin, die neu an eine Schule kommt und wenig später im Zentrum einer unaufhaltsam eskalierenden Diebstahl-Affäre steht. Irgendwann hat sie nahezu alle Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern gegen sich, obwohl sie die ganze Zeit versucht, den Kindern wohlmeinend zu begegnen. Ein Film mit Thriller-Qualität, der im Mai auch in die Kinos kommt.

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