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Eduard Zimmermann im Studio von „Aktenzeichen XY ungelöst“. Aus Zürich zugeschaltet Werner Vetterli.

© picture alliance/ZDF/dpa/Renate Schäfer

Der Angstmacher: Regina Schillings Doku über „Aktenzeichen XY ungelöst“ mit Eduard Zimmermann

Nach „Kulenkampffs Schuhe“ nun „Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann“. Dokumentarfilmerin Regina Schilling über den Einfluss des „XY“-Erfinders auf die westdeutsche Gesellschaft.

Kaum jemand, der in der alten Bundesrepublik aufwuchs, dürfte ohne Erinnerung an die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ und ihren Erfinder Eduard Zimmermann sein. Spätestens nach der markanten Titelmelodie war das Wohnzimmer für Kinder tabu. Das Verbot endete freilich irgendwann. Geblieben ist das unbestimmte Gefühl der Angst. Und eine vermeintliche Gewissheit, dass die Welt da draußen voller Gefahren ist.

Die Dokumentarfilmerin Regina Schilling („Kulenkampffs Schuhe“) hat 300 „Aktenzeichen XY“-Sendungen mit unzähligen Fällen von Betrug, Raub, Mord und sogenannten Sittlichkeitsverbrechen angesehen. „Während der Sichtungsphase war ich sehr viel misstrauischer und ängstlicher meiner Umgebung gegenüber. Abends allein im Dunkeln, auf dem Bahnhof … Ich fürchte, das heimliche Schauen der ,XY‘-Sendung in meiner Kindheit hat mich mehr geprägt, als mir lieb ist“, sagt Schilling im Begleittext zur Dokumentation „Diese Sendung ist kein Spiel – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann“. Sie läuft am Donnerstag um 23 Uhr im ZDF, ist ab 10 Uhr in der ZDF-Mediathek abrufbar.

Geburtsstunde von True Crime und interaktivem Fernsehens

Ein Beispiel für das Reenactment mit einer deutschen Durchschnittsfamilie mit Vater, Mutter, Tochter im Westdeutschland des Jahres 1967: Die Frau hilft dem Mann in den Mantel, als er zur Arbeit geht, und herzt kurz das Mädchen. „Für die Männer sind Beruf und Karriere am wichtigsten. Für die Frauen endet die Arbeit mit der Hochzeit, dann werden sie Hausfrau“, kommentiert Schilling die Bilder aus dem Off.

Ein ganz normaler Freitag also, man freut sich auf das Wochenende und ein Glas Eierlikör. Bis vermummte Einbrecher in die Wohnung stürmen, das Ehepaar niederschlagen, das Wohnzimmer anzünden. Und Eduard Zimmermann verkündet: „Die Kriminalität wächst nach neuesten Zahlen beinahe fünfmal so schnell wie unsere Bevölkerung. Immer mehr Straftaten bleiben unaufgeklärt.“ Aber dank „Aktenzeichen XY“ muss es nicht so bleiben: „Ihr Anruf kann dazu führen, dass ein lange gesuchter Verbrecher festgenommen wird.“

Das rückwärtsgewandte Frauenbild der Adenauer-Ära

„Aktenzeichen XY ungelöst“, das war True Crime zu einer Zeit, als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Eduard Zimmermann fing da an, wo die Polizei nicht mehr weiterkam. Basierend auf Fallakten wurden die Verbrechen mit Drehbuch und Schauspielern nachgestellt. Durch die direkte Zuschauerbeteiligung und die Echtzeitauswertungen über die Landesgrenzen hinweg nach Österreich und in die Schweiz wurde das Format zugleich zum Startpunkt des interaktiven Fernsehens.

„Den Bildschirm zur Verbrechensbekämpfung einzusetzen. Das ist der Sinn unserer neuen Sendung“, sagt Zimmermann bei der Premiere am 20. Oktober 1967. Im Studio die neueste Technik, mehrere Telefonistinnen mitsamt Tonband nehmen die Anrufe der Zuschauer entgegen. Der geschäftstüchtige Zimmermann gründet für die Produktion der Sendung ein eigenes Unternehmen.

Es ist kein sehr schönes Bild, aber wenn es darum geht, einen Mörder zu entlarven, dann sollte man ein paar Sekunden ziemlich genau hinsehen.

Eduard Zimmermann schreckte in der ersten Sendung nicht davor zurück, das Bild einer durch Kopfschüsse getöteten Frau zu zeigen.

Zimmermann ist nicht zimperlich, auch nicht mit den Gefühlen der Zuschauer: Um den Täter des ersten Falls zu finden, zeigt der Moderator das Bild der jungen Frau, die mit Kopfschüssen getötet wurde. „Es ist kein sehr schönes Bild, aber wenn es darum geht, einen Mörder zu entlarven, dann sollte man ein paar Sekunden ziemlich genau hinsehen.“ Das ZDF lobt teilweise selbst Belohnungen aus.

Das Fernsehen nicht nur als Berichterstatter, sondern mithilfe aufmerksamer Zuschauer als Akteur der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Es darf bezweifelt werden, dass eine solche Sendung heutzutage von den Programmplanern und der Gesellschaft akzeptiert würde. Auch damals gab es Kritik, vom Denunziantentum war die Rede. Doch „Ganoven-Ede“ und das ZDF ließen sich davon nicht beirren.

Die erste Sendung strahlte das ZDF 1967 aus. Bis 1997 wurde sie von Eduard Zimmermann moderiert und produziert, nach einem Intermezzo mit Butz Peters übernahm Rudi Cerne die Sendung. Zwischen 1987 und 2001 war Eduard Zimmermanns Tochter Sabine Co-Moderatorin von „XY“. Laut Wikipedia wurden in den bislang 588 Folgen 4977 Kriminalfälle behandelt, die Aufklärungsquote liegt bei 39,2 Prozent. Ähnlich spektakulär die TV-Quoten. Bis zu 25 Millionen Menschen schalteten monatlich bei „Aktenzeichen XY“ ein. Nur „Was bin ich?“ und „Grzimeks Tierleben“ waren seinerzeit ähnlich beliebt.

Eduard Zimmermann – der Warner, Mahner, Beschützer

Regina Schilling lässt lange Szenen der Sendung laufen, inklusive der Moderation von Zimmermann, der vor „Aktenzeichen XY“ für das ZDF schon „Vorsicht Falle – Nepper, Schlepper, Bauernfänger“ moderiert hatte. Schilling stößt vor allem das Frauenbild in der Zimmermann-Ära auf. „Im Laufe meiner Recherche überraschte es mich aber doch, wie vehement Eduard Zimmermann sich nicht nur mit Verbrechen beschäftigt, sondern seine Sendung auch benutzte, um dem Aufbruch und der Emanzipation der Regierungsjahre unter Willy Brandt und Helmut Schmidt entgegenzuwirken“, konstatiert die Dokumentarfilmerin.

Zimmermann wird zur moralischen Instanz für die westdeutsche Fernsehnation, zum Beschützer, Aufpasser, Mahner und Warner. Überraschend für Schilling angesichts seiner Biografie. Als uneheliches vaterloses Kind musste er sich nach dem Krieg ohne Unterstützung der Eltern durchschlagen, kam selbst mit dem Gesetz in Konflikt. „Er ist politischer Häftling in Bautzen. Er heiratet eine sieben Jahre ältere Frau, die bereits zwei Töchter aus zwei verschiedenen Ehen hat. All das entspricht nicht dem Weltbild, das er in „XY“ vermittelt“, wundert sich Schilling.

Während sich Ende der 1960er Jahre die westdeutsche Gesellschaft nachhaltig verändert, mit „Beat Club“ und außerparlamentarischer Opposition und Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“, bleibt Eduard Zimmermann standhaft auf ZDF-Gegenkurs. „Er erklärte uns, was wir tun dürfen und was nicht. Wie die Abweichung von der Norm bestraft wird. Ob Homosexuelle oder alleinstehende Frauen. Wer sich nicht in bürgerlichen Bahnen bewegt, lebt gefährlich.“ Für Regina Schilling ist das die stärkste Message der Zimmermann-Jahre von „Aktenzeichen XY ungelöst“. Eine andere Frage ist: Was sagt es aus, dass die Sendung noch immer im Fernsehen läuft?

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