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Gesten finden für das Trauma, die Wut, die Überforderung: Oksana (l.) und Katya bei der Theaterprobe.

© / dpa/Kundschafter Filmproduktion

Der Dokumentarfilm „Das Hamlet Syndrom“: Krieg auf der Bühne

Das Dokumentar-Duo Elwira Niewiera und Piotr Rogolowski hat fünf junge Ukrainer:innen bei einem Theaterprojekt begleitet, in dem sie ihre grausamen Kriegserfahrungen im Donbass verarbeiten.

Bleiben oder Gehen, Leben oder Sterben, Sein oder Nichtsein: Die fünf Protagonisten dieses Films sind Shakespeares Hamlet sehr ähnlich, denn auch ihr Leben kollidierte „plötzlich mit einem brutalen Machtkampf in der Heimat“, wie Regisseur und Kameramann Piotr Rosolowski es formuliert.

Katya, Slavik, Roman, Rodion, Oksana: Fünf ukrainische Schauspielerinnen und Schauspieler, zwischen 27 und 36 Jahre alt, sie haben auf dem Maidan für die Freiheit protestiert, waren mittendrin bei der Feuertaufe der ukrainischen Demokratie. Im Donbass haben sie dann dem Tod ins Auge gesehen, im Freiwilligenbataillon oder als Sanitäter, bedroht und diskriminiert. Sie gerieten in Gefangenschaft, mussten fliehen oder kämpften für ein anderes, ehrliches Theater, bis heute. Jetzt bringen sie ihre Traumata, ihre Verstörung, ihre Wut und Passion mit zum „Hamlet“-Theaterprojekt, in den Monaten und Wochen vor Beginn des erneuten russischen Angriffskriegs seit dem 24. Februar 2022.

Kiew, erster Probentag, Regisseurin Roza Sarkisian platziert sie auf den Bühnenbrettern, still liegen sie da. Schlafen, albträumen, der Rest ist Schweigen? Nein, für ihren „Hamlet“ wollen die Fünf das Schweigen brechen, wollen Worte, Gesten und Szenen für das Unaussprechliche finden, für Gewalterfahrungen, für die Hölle des Kriegs, für Schuldkomplexe. Das polnische Dokumentarregie-Duo Elwira Niewiera und Piotr Rosolowski („Der Domino-Effekt“) hat die Theaterproben begleitet und das Vertrauen der fünf gewonnen, nun vertrauen sie sich ihrerseits der Kamera an. Ruhige Einstellungen, Geduld, Empathie: Die Kamera wird zum stillen Zeugen eines schmerzlichen, künstlerisch-therapeutischen Selbsterfahrungsprozesses.

Slavik zum Beispiel. Bei der Schlacht um den Donezker Flughafen starben die anderen um ihn herum, bis die Separatisten ihn verschleppten. Erst sagt er fast nichts, verlässt das Theatergebäude, kehrt zurück, skizziert stockend das Erlebte: Schikanen, Folter, simulierte Erschießungen, Suizidgedanken, vor allem die unmögliche Wahl bei vorgehaltener Schusswaffe, entweder getötet zu werden oder der Aufforderung zu folgen, einen Kameraden zu töten. Oder Roman, der Sanitäter, der entsetzlich zugerichtete Leichen inspizieren musste, wie soll er das spielen? Den Reißverschluss des Leichensacks auf der Bühne aufziehen, unerträglich.

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Oder Katya, die nach eineinhalb Jahren beim Ajdar-Bataillon Kriegsverbrechen für eine Bürgerinitiative dokumentierte. Hier verlässt der Film das Theater, schaut ihr bei der Befragung einer misshandelten, mutmaßlich vergewaltigten Frau zu, bis Katyas Kreislauf nicht mehr mitmacht. Oft ist es das Nichtgesagte in diesem Dokumentarfilm, das Bände spricht, auch mit Blick auf die Frage, was ein Film, was die Kunst angesichts des Krieges noch auszurichten vermag.

So werden die rohen Bühnenbretter zur Plattform für eine junge, misshandelte, missbrauchte Generation, die Kraft schöpfen, sich versöhnen und weiterleben will. Aber Normalität bleibt ihr verwehrt. Bei Elternbesuchen zu Hause in Charkiv oder draußen auf dem Land zeigt sich ein weiteres Dilemma: Die Mutter, der Vater möge bitte verzeihen, dass ihr Kind in den Krieg ging und der Familie Ängste aufgebürdet hat. Dass es sich anders entschieden hat, sich anders verhält. Der Stylist und Kostümdesigner Rodion, der jüngste im Bunde, ist in der LGBTQ-Community aktiv, er flüchtete vor brutalen Diskriminierungen aus dem Donbass, selbst seine Mutter hat ihn nie akzeptiert. Jetzt hocken die beiden im Regen unter zwei Schirmen - immer wieder findet der Film solche beredten Bilder. Die beiden nähern sich an, aber Frieden schließen? Kaum möglich.

Eine leere Bühne für den Schmerz, die Trauer, die Überforderung: „Das Hamlet Syndrom“ erzählt vom Ringen mit der Vergangenheit und der eigenen Identität, auch von den Konflikten der Fünf untereinander. Etwa um die ukrainische Flagge, die den Soldat:innen heilig ist, während Oksana, die an der künstlerischen und der feministischen Front kämpft, das Gewaltpotential der Fahne bloßlegen will. Oksana weiß nicht, ob sie das Land verlassen soll: Noch eine existentielle Frage, mit der sich viele junge Ukrainer:innen herumschlagen. Oksana Cherkashyna spielt übrigens die Hauptrolle im preisgekrönten Kriegs-Familiendrama „Klondike“, das 2022 auf der Berlinale von sich reden machte und für die Ukraine ins Oscar-Rennen geht.

Slavik, Katya und Roman sind inzwischen wieder an der Front, wie man im Abspann erfährt. Rodion ist nach Lwiw weitergeflüchtet, er schneidert Uniformen und organisiert humanitäre Hilfe. Das tut auch Oksana, die inzwischen in Polen lebt. Regisseurin Elwira Niewiera organisiert seit neun Monaten Hilfstransporte für die Bataillone der Filmprotagonisten, mit Schutzwesten, Nachtsichtgeräten, Medikamenten und Generatoren; sie half auch bei der Evakuierung eines Kinderheims nach Bayern.

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Und das Theaterprojekt die Momentaufnahme einer kurzen, trügerischen Zwischenzeit.

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