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 Der italienische Verleger Giangiacomo Feltrinelli. Die Aufnahme stammt vermutlich von 1958.

© imago

Nanni Balestrinis Schlüsselroman: Der Verleger Feltrinelli und sein rätselhafter Tod

Ein Klassiker, neu ediert: Balestrinis "Der Verleger" war ein Nachhall der wilden 60er Jahre und wirkt heute wie ein Vorschein aktueller Konflikte.

Plötzlich werden wir versetzt in die turbulenten Zeiten der einst „experimentell“ genannten Romane: als es unterm Eindruck von Nachkrieg, Kaltem Krieg, Guerilla, Studentenrevolte und linkem wie rechtem Terror noch um Collagen aus Fiktion und Dokumentation ging. Um die Vereinigung von Politik und Poetik.

Nanni Balestrinis 1989 in Italien publizierter Roman „Der Verleger“ war ein Nachhall und wirkt doch heute wie ein Vorläufer angesichts gegenwärtiger Rebellionen und Konflikte. Das Buch des 2019 in Rom mit 83 Jahren gestorbenen Schriftstellers und linken Aktivisten ist zuletzt schon mal 2008 auf Deutsch erschienen. Doch blieb es hier so wenig beachtet wie das ganze Werk Balestrinis, obwohl etliche seiner Titel (etwa der Mafia-Roman „Sandokan“) schon früher in deutschen Verlagen erschienen. Nun aber sollte „Der Verleger“ – in der brillanten Übertragung von Christel Fröhlich und Andreas Löhr neu ediert (Verlag Assoziation A, Berlin 2020, 151 Seiten, 18 €) – die Aufmerksamkeit endlich wecken für diesen neben Umberto Eco oder Edoardo Sanguineti bedeutenden Autor der italienischen „Neoavanguardia“ .

In elf als „Szenen“ bezeichneten Kapiteln erzählt der im Umfang schmale, gleichwohl zeitgeschichtlich epochale Roman vom Ende des nie mit Namen genannten Mailänder Verlegers Giangiacomo Feltrinelli. Der Millionenerbe der ursprünglichen Holz-, Eisenbahnen- und Banken-Dynastie Feltrinelli war am 14. März 1972 auf einem Weizenfeld im Mailänder Vorort Segrate tot aufgefunden worden. Er lag verblutet, mit abgerissenem linken Bein und weiteren Verletzungen, am Fuß des Strommasts Nr. 71 der nach Mailand führenden Überlandleitung. Feltrinelli war, soweit ermittelbar, das Opfer einer zu früh explodierten Dynamitladung, die offenbar zum Anschlag auf die Elektrizitätsversorgung der norditalienischen Wirtschaftsmetropole dienen sollte.

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Balestrinis Kapitel-„Szenen“ wechseln jeweils im Gegenschnitt vom Geschehen im Frühjahr 1972 zu den Überlegungen eines jungen Regisseurs, einer Journalistin, eines Buchhändlers und eines Uni-Professors, die 17 Jahre später als frühere Weggefährten des Verlegers an einem schließlich aufgegebenen Film über den Fall arbeiten.

Der Anfang schildert, auf das reale Obduktionsprotokoll gestützt, wie Feltrinellis Leiche in der Gerichtsmedizin seziert wird; am Schluss steht die von Menschenmassen begleitete Bestattung in der monumentalen Grabkapelle der Feltrinelli-Familie auf dem Mailänder Zentralfriedhof – mit einem Flashback zu dem, was am Strommast von Segrate in den letzten Minuten vor der Explosion passiert sein mag.

Der tragische Reiz ist das ungelöste Rätsel. Giangiacomo war früh ein Außenseiter der Familie, kämpfte als jugendlicher Partisan 1944/45 gegen die Deutschen und Mussolinis Faschisten, wurde Mitglied der KPI, gründete 1954 mit kaum 28 Jahren in Mailand den Feltrinelli Verlag, der mit Pasternaks „Doktor Schiwago“ und Lampedusas „Leopard“ schnell Weltgeltung erlangte. Der Verleger sprach fließend Deutsch, war in dritter Ehe mit der Fotografin Inge Feltrinelli-Schönthal verheiratet, blieb links engagiert, finanzierte Che Guevara genauso wie seinen Berliner Freund Rudi Dutschke und ging 1969 fast zeitgleich wie Ulrike Meinhof in den revolutionären Untergrund.

Rechter Terror, linker Terror? Balestrini lässt es gekonnt in der Schwebe

Aber warum sollte er sich an die hochriskante Sprengung jenes stählernen Strommasts gemacht haben? Warum hatte er als einer der prominentesten, leicht erkennbaren Männer Italiens einen simplen falschen Ausweis in seiner Jacke, wieso waren sein Oberkörper und das Gesicht, atypisch für die Explosion, fast unversehrt?

Bis heute gibt es den Verdacht, dass rechte Terroristen wie bei anderen Sprengstoffattentaten in Italien den Unfall zur Diskreditierung der Linken selbst inszeniert haben. Doch Balestrini lässt das gekonnt in der Schwebe. So schafft er Nachdenklichkeit und Mehrdeutigkeit, wie auch durch eingewobene lyrische Zitate und assoziative Passagen aus Malcolm Lowrys Roman „Unter dem Vulkan“, dessen italienische Fassung Feltrinelli gleichfalls verlegt hatte. Eine Entdeckung.

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