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Schweigt der Menschen laute Lust. Rauscht die Erde wie in Träumen wunderbar mit allen Bäumen. Die Landschaft von Knepp im Dunst.

© Anthony Cullen/DuMont

Nature Writing: Die Rückkehr der Turteltauben

"Wildes Land": Isabella Tree berichtet von einem grandiosen Renaturierungsprojekt im englischen West Sussex.

Sieht aus wie Afrika: große Schweine, die Nilpferden ähnlich, in Tümpeln stehen und Wasser schlabbern. Vierbeiner, die mit mächtigen Hörnern durch die Wildnis schreiten. Ein Fluss, der sich mäandernd seinen Weg durchs Grün bahnt. Fehlt nur der Ranger, der mit seinem Jeep um die Büsche biegt.

Die Bilder stammen aus England, der Heimat des manikürten Rasens, der sanften Hügel und idyllischen Landschaftsparks, die tun, als wären sie Natur, aber von Menschen mit Stilgefühl angelegt wurden. Die Fotos wurden in Knepp aufgenommen, einem Anwesen im Süden, nicht weit von London entfernt. Sie illustrieren das Buch, das Isabella Tree über ein unglaubliches Experiment geschrieben hat, die gezielte Renaturierung ihrer Farm: „Wildes Land“.

[Isabella Tree: Wildes Land. Die Rückkehr der Natur auf unser Landgut. Aus dem Englischen von Sofia Blind. DuMont, Köln 2022. 416 Seiten, 24 €.]

Tree und ihrem Mann ging es nicht besser als vielen Landwirten. Die Preise für ihr Getreide fielen im selben Maße, in dem ihre Schulden stiegen. Und sie hätten noch Kredite mehr aufnehmen müssen, um in noch größere Maschinen zu investieren. Der ohnehin schwierige Lehmboden war ausgelaugt. Vor gut 20 Jahren gab das Paar die intensive Landwirtschaft auf und „stolperte“ in die Renaturierung hinein. Das begann mit dem subventionierten Rückbau von Ackerfläche, die im Zweiten Weltkrieg angelegt wurden – dort, wo einst ein Park war und heute wieder ist.

Isabella Tree stammt aus der Heimat des Nature Writing, präzise und anschaulich beschreibt sie Flora und Fauna. Etwa, wie der Kaisermantel vor dem weiblichen Schmetterling enge Loopings zieht „und hin und wieder inne hält, damit sie unter ihm hindurchfliegen kann, durch einen Schauer berauschender Duftschuppen, die von seinen Vorderflügeln herabfallen“.

Die Autorin hat die seltene Fähigkeit, zu schwärmen, ohne sentimental zu werden. Sie schwärmt mit Zahlen, die eine große, oft erst mal beängstigende Rolle spielen. Zwischen 1972 und 1996, so Tree, sei die Zahl der Lerchen um 75 Prozent zurückgegangen, die Zahl der Streuobstwiesen seit 1951 von 113 000 auf 22 000 Hektar. Zwischen 1995 und 2008 sei die Zahl der Nachtigallen in Großbritannien um 53 Prozent gefallen, auch aus Knepp waren sie verschwunden. Inzwischen geben die Singvögel dort regelrechte Konzerte. 89 verschiedene Moossorten finden sich auf dem Anwesen, auf dem sich 62 verschiedene Bienenarten tummeln.

Die eigenen Erlebnisse und Erkenntnisse sind unterfüttert mit wissenschaftlichen Studien und umfassender Lektüre – die Bibliografie allein umfasst 19 Seiten. Immer wieder holt Tree weit aus, erzählt, wie es in England vor 30, 300 und 3000 Jahren aussah.

Fehlschläge und Irrtümer

„Wildes Land“ gehört nicht zu den zahllosen Büchern, die von persönlichen Projekten wie Hausbauen oder Gartenanlegen erzählen, deren Autor:innen um der humoristischen Wirkung willen mit der eigenen Ahnungslosigkeit kokettieren und sich das Scheitern ausmalen. Tree berichtet nüchtern von Fehlschlägen und Irrtümern; sie und ihr Mann gehen systematisch zur Sache.

Den größten Einfluss auf sie hat der holländische Biologe und Ökologe Frans Vera, der fast wie ihr Guru klingt und der ein riesiges Rewilding-Projekt betreut hat, das Oostvaardersplassen Natuturreservat. Vera gehört inzwischen zu dem Beirat, der das Experiment von Knepp begleitet, zusammen mit einer Vielzahl von Ökolog:innen, Professor:innen, Vertreter:innen verschiedenster Institutionen und Stiftungen, wie Natural England, Butterfly Trust oder dem National Trust, Europas größter Kultur- und Naturschutzorganisation, die jeder Tourist in England kennt. Gestartet als Akt der Verzweiflung, ist das Renaturierungsprojekt längst zu einem Modell des Rewildings geworden, einer Bewegung, die aus Amerika kommt.

Obwohl sie von ihren eigenen Erfahrungen erzählt, gibt Isabella Tree nur so viel Persönliches preis, wie es für die Geschichte relevant ist. Zum Beispiel, dass ihr Mann einen Teil seiner Kindheit in Afrika verbracht hat, und eine Affinität zu dem Kontinent hat. Der Umgang mit der Wildnis dort hat sie beide geprägt, manches haben sie sogar auf West-Sussex übertragen. Inzwischen bietet das Paar selber Safaris auf dem Gut an.

Ohnehin kennt die Autorin die Welt. Als Reisejournalistin hat sie für verschiedene Zeitungen abgelegene Regionen besucht, hat Bücher über Papua Neuguinea, Mexiko und Nepal geschrieben. Bei aller Naturverbundenheit sind Isabella Tree und ihr Mann Charlie Burrell aber keine Hippies. Ihren Besucher:innen bieten sie Camping, Glamping und Baumhäuser zum Übernachten an, sie selbst leben im Schloss, das zum Gut gehört. Charlie heißt eigentlich Sir Charles Raymond, der zehnte Baronet Burrell stammt aus einer alten Adelsfamilie. Nebenbei erwähnt die Autorin, dass auf dem Bereich am Schloss Poloturniere und Kunsthandwerkermärkte stattfinden, indische Hochzeiten gefeiert werden. Der Tourismus ist eine wichtige Einnahmequelle. Über ihre 1400 Hektar Land verlaufen viele Kilometer lange Wander-, Rad- und Reitwege.

Zurück in die Steinzeit?

Das Renaturierungsprojekt zielt denn auch nicht darauf, das Land einfach sich selbst zu überlassen, auf dass es in die Steinzeit zurückfällt - was, so Tree, auch Zehntausende Jahre oder mehr dauern könnte. Es geht um das Zusammenleben von Mensch, Tier und Pflanzenwelt im 21. Jahrhundert. Umso erstaunlicher, dass das gerade so beliebte Wort Cohabition gar nicht fällt.

Bei der Auswahl der Rinder, Schweine und Ponys, die sie peu à peu auf ihr Gut geholt haben, haben Tree und Burrell sich zunächst daran orientiert, was es ganz früher in der Gegend an Fauna gab. Jetzt ersetzen Longhorns die ausgestorbenen Auerochsen. Es mussten robuste Tiere sein, die noch heute alleine überleben können, auch im Winter keine Ställe brauchen und, von Ausnahmen abgesehen, keine Tierärzt:in. So kamen sie auf die English Longhorns, Damhirsche, Tamworth-Schweine und Exmoor-Ponys. Aber ebenso wichtig war, dass die Vierbeiner Spaziergänger nicht angreifen. Vom Pony-Hengst mussten sie sich wieder trennen: Er trieb es zu wild.

Keine Spezies lebt hier isoliert, jede hat Konsequenzen für andere Lebewesen. So bereiten die Schweine buchstäblich den Boden für andere, indem sie diesen durchpflügen. „Durch ihr Wühlen produzieren sie im richtigen Umfeld die richtigen Keimbedingungen für die ein- und zweijährigen Unkräuter, die Turteltauben im Sommer gerne fressen.“ Die Rückkehr der Turteltauben gehört zu den Sensationen in Knepp. In einem Busch, der wächst, wie er will, leben jede Menge kleiner Tiere, Dorngebüsch wiederum, das hier nicht rausgezerrt wird, sondern hochschießen darf, sei extrem wichtig für die Bäume.

Es geht um das friedliche, aber auch finanzierbare Zusammenleben der unterschiedlichen Lebewesen. So werden die Longhorns am Ende ihres glücklichen Lebens geschlachtet; Isabella Tree schwärmt von der Qualität, dem Geschmack des Biofleischs, das Edelrestaurants braten. Auch die größten Naturfreunde müssen von etwas leben. Das Experiment kostet Geld. Viel Geld. Ohne Subventionen geht das nicht.

Heute ist Kemp ein Pilgerort für Naturfreund:innen, Umweltschützer:innen, Anhänger:innen des Rewildings, Vogelbeobachter:innen. Aber das Projekt ist nicht nur auf Begeisterung gestoßen. Die Autorin, nicht ganz frei von Selbstgefälligkeit, verschweigt die Kritik vor allem der Nachbarn nicht, die sich darüber empörten, wie verlottert und fremd das Land aussehe, oder dass das Jakobskreuzkraut explodiert. Aber wo die anderen Unkraut sehen, erblickt Tree ein Eldorado für Insekten.

Das Experiment stößt auf offene Ohren

Die Nachbarn fanden es auch empörend, dass da jemand die Landwirtschaft und damit den Anbau von Lebensmitteln aufgegeben hat. Tree hält dagegen: Wenn Essen nicht tonnenweise weggeschmissen würde, müsste man nicht so viel Fläche landwirtschaftlich nutzen.

Inzwischen stößt das Experiment offenbar auf offene Ohren. Vor allem die ganz Alten und die Jungen freuen sich, so Tree. „Wildes Land“ hat sich in Großbritannien mehr als 200 000 mal verkauft. Für Isabella Tree ist Knepp eine Erfolgsgeschichte, die nach gut 20 Jahren noch lange nicht abgeschlossen ist –- für ihren Geschmack könnte es wilder sein. Es ist eine hoffnungsfroh stimmende Lektüre, denn so denaturiert ein mit Kunstdünger und Monokulturen malträtiertes Land auch sein mag – es kann sich erholen.

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Freilich, das alles kostet viel Zeit, Arbeit, Geld, Geschick und Geduld, nicht zuletzt, was den Umgang mit Ämtern, gesetzlichen Regelungen und die Beantragung von Fördergeldern betrifft. So dauerte es neun Jahre, bis der kanalisierte Fluss befreit und wieder in sein Überschwemmungsgebiet zurückkehren durfte, was nicht nur schöner aussieht, sondern auch wirksam gegen Hochwasser schützt. Und das, obwohl die Umweltbehörde von Anfang an von der Idee überzeugt war.

Das hält man vermutlich besser durch, wenn man in Generationen statt Jahren rechnet, wie Sir Charles – sein Sohn wird der elfte Baronet Burrell sein. (Töchter können in der englischen Aristokratie noch immer nicht Titel und Besitz erben.) Und wie viele Naturfreunde haben 1400 Hektar zur Verfügung?

Wovor die Naturfreundin Isabella Tree sich fürchtet: dass Knepp unter Naturschutz gestellt werden könnte. Es würde bedeuten, den Status quo einzufrieren, die Freiheit zu verlieren, umzuschwenken, neue Projekte in Angriff zu nehmen. Das Experiment sollte immer ein offenes Ende haben.

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