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Wo die Nachlässe lagern. Anatol Regnier im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

© Markus Schindler/Lupa Film

Dokfilm „Jeder schreibt für sich allein“: Tanz mit dem Teufel

Kästner, Benn und Fallada: Dominik Graf folgt in seinem Dokumentarfilm „Jeder schreibt für sich allein“ den Karrieren von Schriftstellern in Nazi-Deutschland.

Um dem Wesen des Bösen auf den Grund zu gehen, mangelte es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht an innovativer Fantasie. Der US-Psychiater Douglas M. Kelley, der abkommandiert wurde, um die NS-Hauptverbrecher vor den Nürnberger Prozessen auf ihren Geisteszustand zu untersuchen, arbeitete mit Rorschachtests. Aber es gelang ihm nicht, daraus ein Persönlichkeitsmuster des Nazis zu ermitteln. Das Rorschach-Material reichte er an Kollegen weiter, eine Auswertung wurde nie veröffentlicht.

Rorschach-Klecksfiguren wabern durch den Anfang von Dominik Grafs Dokumentarfilm „Jeder schreibt für sich allein“. Die Massenmörder waren keine Monster, sondern auf beunruhigende Weise normale Menschen. Gut und Böse lassen sich nicht wie Schwarz und Weiß trennen, schon gar nicht in der Literatur.

Der Film beschäftigt sich mit den Biografien von Schriftstellern, die nach 1933 in Deutschland blieben, wobei – abgesehen von den Muster-Nationalsozialisten Hanns Johst und Will Vesper - viele Graustufen zwischen Anpassung und Ablehnung vorkommen.

Der Filmtitel ist dem Buch „Jeder schreibt für sich allein“ von Anatol Regnier entlehnt. Der Autor, 1945 geborener Spross der Schriftsteller- und Schauspieler-Dynastie Wedekind, führt als Protagonist durchs Thema. Zu Beginn fliegt die Kamera auf das Marbacher Literaturarchiv zu, wo Regnier hinabsteigt zu den Nachlässen im Keller. Später besucht er in Sanary-sur-Mer, Zufluchtsort vieler Exilanten, das Hotelzimmer von Klaus Mann, mit Hafenblick vom Balkon.

Benn verhöhnt die Emigranten

Dort schrieb Mann einen erbosten Brief an Gottfried Benn, der sich den Nazis als Akademie-Funktionär dienstbar gemacht und in Radioansprachen die „deutsche Revolution“ gefeiert hatte. In seiner öffentlichen Antwort verhöhnte Benn die Emigranten „in Ihren Badeorten“ und verkündete, dass er über die „deutschen Vorgänge“ nur mit denen diskutieren wolle, die sie auch dort erlebt hätten.

Das bewahrte ihn nicht davor, später beim Regime in Ungnade zu fallen und Publikationsverbot zu erhalten. Benn gab seine Berliner Arztpraxis auf, ließ sich militärisch reaktivieren und als Oberstabsarzt nach Hannover versetzen. Dort saß er in Bierlokalen, abseits und „immer deprimiert“, wie sich der Sohn des Gastronomen erinnerte. Benn war zum Pakt mit dem Teufel bereit. Aber der Teufel wollte keinen Pakt, konstatiert die Literaturwissenschaftlerin Julia Voss, eine von vielen Expert:innen im Film.

Weniger eindeutig ist der Fall Erich Kästner. Der Erfolgsautor der späten Weimarer Republik war nach eigenen Angaben bei der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz im Mai 1933 dabei, wo auch seine Werke ins Feuer geworfen wurden.

Aber kurz nach der Machtübernahme der Nazis hatte er seiner Mutter „Ich bin mächtig vergnügt“ auf einer Urlaubskarte geschrieben, und sein Berufsverbot unterlief er, indem er fürs Kino arbeitete. Nach einer Besprechung mit NS-Hierarchen über sein Drehbuch zum Ufa-Prestigefilm „Münchhausen“ freute er sich, es habe „allen sehr gefallen“.

Graf bewundert Kästner, seine Verfilmung von dessen Roman „Fabian“ lief 2021 im Wettbewerb der Berlinale. Jetzt zeigt er einige Szenenproben, die während der Dreharbeiten entstanden. Den Witz und die Schlagfertigkeit dieser Dialoge hat Kästner im Laufe des „Dritten Reichs“ verloren, der Ironiker wurde zum Melancholiker. „Ich war tot und lebte weiter“, bekannte er in seinem Fragment geblieben Roman „Der Doppelgänger“.

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Den Begriff Innere Emigration prägten nach dem Zweiten Weltkrieg Autoren wie Frank Thiess, die ihr Mitläufertum rechtfertigen wollten. Sie reagierten damit auf die Forderung von Thomas Mann, alle Bücher, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland gedruckt wurden, „einzustampfen“, weil ihnen ein Geruch von „Blut und Schande“ anhafte. Hans Fallada emigrierte immerhin von Berlin ins mecklenburgische Dorf Carwitz, wo er weiter im rasenden Tempo Romane produzierte.

Später rechnete er in seinem Widerstands-Buch „Jeder stirbt für sich allein“ mit den Nazis ab, doch 1943 zeigte er sich bereit, einen antisemitischen Propaganda-Roman über einen jüdischen Betrüger zu liefern. „Ich bin kein mutiger Mensch, ich kann nur viel ertragen“, hat Fallada gesagt.

Graf spricht von einem „Versteckspiel mit sich selbst“. Ina Seidel, die sich an den Starnberger See zurückzog, ruinierte ihren Ruf mit einem Hitler-Gedicht und schrieb gleichzeitig leidenschaftliche Briefe an eine Geliebte.

Dominik Graf beherrscht die Kunst des Assoziierens, in seinem fast dreistündigen Essayfilm lässt er Bilder und Stimmen elegant ineinander gleiten. Er zeigt auf der Straße verloren gegangene Schuhe und die Berge aus Schuhen Ermordeter in einem KZ. Die Vergangenheit ist nicht vorbei, es kommt darauf an, weiter die richtigen Fragen zu stellen.

Die Debatte darüber, ob München seine Erich-Kästner-Straße umbenennen solle, hält Graf für ahistorisch und grundfalsch. Seine Warnungen vor der Gefahr eines totalitären Gutmenschentums wirken allerdings ein wenig übertrieben.

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