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Elbflorenz, wie Dresden auch gern genannt wird.

© dpa/dpaweb/Andreas Lander

Durs Grünbeins großartiges Buch „Der Komet“: Wenn das Leben die Mythen zertrümmert

Der Berliner Lyriker und Büchner-Preisträger erzählt die Geschichte seiner Großmutter Dora – und die von Dresden zur Zeit des Nationalsozialismus bis zu den Bombenangriffen der Alliierten am 13. Februar 1945.

Es ist nicht das erste Mal, dass Durs Grünbein ein autobiografisch inspiriertes Prosabuch geschrieben hat. 2015 erschien von dem 1962 in Dresden geborenen und aufgewachsenen Lyriker und Georg-Büchner-Preisträger ein Buch mit Kindheitserinnerungen, „Die Jahre im Zoo“. In diesem ist – fast naturgemäß – dann und wann auch von den Großeltern und Eltern die Rede: vom Großvater, den der kleine Durs in den Schlachthof an dessen ehemalige Arbeitsstätte begleitet. Oder von seiner Mutter Rosemarie, die 1945 im Alter von fünf Jahren von Rotarmisten beinahe nach Russland verschleppt worden wäre.

Kaum ein Wort aber verliert Grünbein in „Die Jahre im Zoo“ über seine Großmutter. Er erwähnt sie ein paar Mal, auch dass sie kurz vor dem 13. Februar 1945 mit Scharlach im Krankenhaus lag und die Bombardements der Alliierten wundersam überlebte.

Grünbeins neues Buch jedoch, „Der Komet“, erzählt nun vor allem die Geschichte seiner Großmutter, jener Dora W., wie es eingangs heißt, die kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieg den zehn Jahre älteren Oskar Wachtel heiratet, Grünbeins Großvater. Diese Lebensgeschichte endet mit dem 13. Februar 1945 ab – Grünbein geht es um das Aufwachsen der 1920 geborenen Dora, wie sie aus einem kleinen Ort in Schlesien nach Dresden kommt, „Oskar hatte sie nach Dresden gezogen, weg von der Kindheitserde“, und wie sie den Nationalsozialismus und den Krieg in Dresden erlebt.

Von der Kunst und von der Luft leben

Und Grünbein geht es überhaupt um seine Heimatstadt zur Zeit des Nationalsozialismus. Ja, um diese gern als „Perle der Elbe“ oder „Elbflorenz“ bezeichnete Barockstadt, in der man, „von der Kunst und der guten Luft“ lebte.

Auch Dora ist angetan von Zwinger, Frauenkirche oder Semperoper, von den Kunstsammlungen und Elbhängen, von „Kleinitalien in Sachsen“, auch sie lässt sich bezaubern von Dresdens Schönheit. Zumal die Stadt für sie, die aus einer Landarbeiterfamilie stammt, sowieso eine leuchtende ist, eine „hochnoble“. Aber Grünbein schreibt ebenfalls: „Wobei meine Vorfahren sich vorwiegend um das Essen und Trinken kümmerten. Da blieb wenig Zeit für das Geistige und die schönen Künste.“

Dora nimmt sich diese Zeit schon. Bei den Alten Meistern in der Gemäldegalerie sei sie in ihrem Element gewesen, so Grünbein; auch die Literatur schätzt sie. Trotzdem hat man bei der Lektüre von „Der Komet“ bisweilen den Eindruck, dass Dora und ihr Mann, das proletarisch-kleinbürgerliche Milieu, in dem sie in Dresden zur Zeit der Nazis leben, das Gegenmodell zu dem Bildungsbürgertum der DDR-Zeit sind, das Uwe Tellkamp in seinem Roman „Der Turm“ porträtiert hat.

Grünbein vermeidet jede Form von Dresden-Idealisierung (vor der sich aber auch Tellkamp stets hütet). Denn „die goldene Zeit“, als die seine Großmutter ihre ersten vier Jahre in der Stadt bis zum Beginn des Krieges bezeichnet (das wird sie bis zu ihrem Tod Mitte der neunziger Jahre tun), ist unter den Nationalsozialisten auch in Dresden alles andere als golden.

„Die kleinen Alltagsfreuden“ seien es gewesen, „die hell hervorleuchteten“. Aber die Einführung der Wehrpflicht, der „verfluchte Gruppenzwang“, der Mann, der bald nur noch an der Front und nicht mehr zu Hause in der Liliengasse war, die sogenannte Kristallnacht, der Cousin, der in Treblinka Aufseher war – all das gehört für Grünbein nun einmal bestimmend zum Dresden jener Zeit, gehört zur Geschichte von Dora Wachtel.

Gegenmodell zu Uwe Tellkamps „Turm“?

Bisweilen vermischen sich die Erzählungen der Großmutter, Grünbeins Erinnerungen an die Unterhaltungen mit ihr, mit den Recherchen des Autors über jene Zeit. Da überlagern sich der dezidiert nüchterne Berichtston mit der privaten Ich-Perspektive.

Bei aller Sachlichkeit verzichtet Durs Grünbein jedoch nicht auf ein Leitmotiv, das des titelgebenden Kometen: Von einem Kometen sei in den Selbstgesprächen seiner Großmutter immer die Rede gewesen; auch der Halleysche kommt vor, der 1910 die Menschen in Angst und Schrecken und Weltuntergangsstimmungen versetzte.

Bei Dora beginnt es mit den Sternen, in die sie beim Ziegenhüten so gern schaut, geht weiter mit den Zeppelinen und der Hindenburg-Katastrophe 1937 oder dem Krieg, „der wie ein Komet auf die Heimat zurast“, so Dora einmal. Ja, und am Ende sind es die Bomben, die vom Himmel fallen: „Dresden war ein einziges Flammenmeer in dieser Nacht, ein Blitzlichtgewitter für die nachrückenden Bomberformationen“.

Durs Grünbein. Er wurde 1962 in Dresden geboren.

© imago/IPON/Stefan Boness/ipon

Grünbein zeichnet ein grandioses Schlussbild, man kann das nicht anders sagen, es ist gleichermaßen erschreckend wie faszinierend intensiv literarisch in Szene gesetzt. Aber auch hier setzt Grünbein Widerhaken, wirkt er dem potentiellen Verdacht entgegen, die Deutschen als Opfer darstellen zu wollen: hier ein kurzer Einschub über die Phantasie der Todgeweihten in den Konzentrationslagern („Lösung der deutschen Frage“, „alle Frauen, Kinder und Alte auf Schiffe verladen und mitten im Ozean versenken“), dort eben jener in Treblinka als Wächter tätige Cousin.

Der Schrecken, das Fegefeuer, der Untergang - all das kam nicht aus dem Nichts, all das hatte eine Vorgeschichte. „Mythen, das begriffen sie, wurden vom Leben zertrümmert“, heißt es am Ende. Genau darum geht es Durs Grünbein in diesem fast durchweg gelungenen Buch. 

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