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Kultur: Insel der Inseln

Kreuzberg gibt es gar nicht, das ist alles nur erfunden: Wie eine Tagung den „Mythos“ des Stadtviertels entzaubert

Zur Arbeit am „Mythos Kreuzberg“ rief die Heinrich-Böll-Stiftung Donnerstag und Freitag ins Nachbarschaftshaus an der Urbanstraße und fragte nach der „Bilanz eines multikulturellen Experiments“. Was ist der Mythos von Kreuzberg? Welche göttlichen Wesen haben dort gewirkt?

Es geht die Fama, Kreuzberg sei Anfang der Siebzigerjahre von Rio Reiser und seinen Brüdern erfunden worden. Damals, als die Studentenbewegung noch in Charlottenburg und Dahlem herumtollte. Kreuzberg war ein Ort am Ende der Welt, Insel der Inseln, mit leeren Fabriketagen und billigstem Wohnraum. Den eroberten sich nun türkische Gastarbeiter, Studenten (Bernward Vesper und Gudrun Ensslin wohnten in der Cuvrystraße), Wehrdienstflüchtige und Schwaben nebst anderen westdeutschen Landsmannschaften. Hausbesetzungen und der Kampf gegen die Staatsmacht („Der Mariannenplatz war blau, so viele Bullen waren da“, sangen Ton, Steine, Scherben) gehörten zur Folklore, es herrschte, so geht die Erzählung, eine immerwährende revolutionäre Stimmung.

Zum späteren mythischen Höhepunkt, in keiner 1. Mai-Geschichte fehlend, gehört die Plünderung und die anschließende Brandstiftung des Bolle-Supermarktes an der Wiener Straße. Noch Jahre später wurden damals erbeutete Erbsen-und-Möhren-Konserven wie Reliquien herumgezeigt. Der „Traumbezirk“, wie Thomas Groß das einmal genannt hat, war die große Nische, der Ort, an dem keiner erwachsen werden musste. Ort für Künstler und Möchtegernkünstler im Schatten der Mauer.

Zu den Wendegewinnern, auch das eine beliebte Berlinerzählung, gehörte Kreuzberg nicht. In den Neunzigerjahren wurde der Bezirk schlecht geredet und -geschrieben. Es folgte der Aderlass in die neuen Bezirke. Und die älter werdende Urbevölkerung wanderte in weiter westlich liegendes Gebiet ab. Deshalb konnte ein Herr aus dem Publikum den Kongressbesuchern auch berichten, dass er nun, nach 28 Jahren, letzter verbliebener deutscher Mieter in seinem Haus sei.

In das Kreuzberger Mythenkörbchen gehören in der Folge die Geschichten von Schulen mit Klassen, in die keine deutschen Kinder mehr gehen, von den Eltern, die, sobald ihre Kinder schulpflichtig werden, wegziehen und die von den „Jacken abziehenden“ Jugendgangs. Die aber gibt es auch in anderen Bezirken.

Kreuzberg funktioniert immer auch als Schreckensbild. Als mahnendes Beispiel dafür, was aus unliebenswerten jungtürkischen Männern mit ihren sonderbaren Imponierautofahrten, aus jungen Frauen mit Kopftuch, den nicht mehr jungen und noch nicht alten Frauen mit Kopftuch, den Frauen ohne Kopftuch und den Junkies am Kottbusser Tor werden kann.

Warum fand es die Böll-Stiftung nun an der Zeit, die „Bilanz eines multikulturellen Experiments“ zu ziehen? Ist ein Experiment nicht eine gesteuerte, kontrollierte Versuchsanordnung? Werden Bilanzen nicht gezogen, wenn es vorbei ist? Ist es mit der Multikulturalität, wenn sie denn ein Experiment gewesen sein sollte, zu Ende? Das Nebeneinander verschiedener Kulturen und Lebensentwürfe, die sich auch in Kreuzberg nicht immer vertragen, ist eine Tatsache. Nichts, das von heute auf Morgen beendet werden könnte. Eine Tatsache, die auf Dauer aber eben auch, wie der Journalist Peter Wensierski betonte, keine Beschönigung und keine harmonisierende Selbsttäuschung verträgt. Die multikulturelle Gesellschaft in Kreuzberg ist eine, die, wie alle Großstadtgesellschaften, durch tolerante Ignoranz funktioniert. Und, worauf Eberhard Seidel hinwies, weil größere soziale Verwerfungen noch durch die großzügigen Fördermaßnahmen früherer, fetter Jahre verdeckt werden.

Die Bilanz galt im Grunde eher der politischen Arbeit eines Milieus, das Kreuzberg miterfunden hat. Claudia Roth trat zwar nicht auf, Christian Ströbele aber war da. Der Mythos Kreuzberg schreibt sich derweil weiter. Wer kann, zieht heute in den Wrangelkiez. Sei echter, authentischer als anderswo, geht das Gerede. Durcheinander macht attraktiv.

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